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11. Jazz-Stile: ab 1960 --- FÜR DIE SCHULE ERKLÄRT


          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Cosmic Rays (1952)

Charlie Parker war im Grunde genommen ein Blues-Musiker, aber auf allerhöchstem musikalischen Niveau. [Mehr dazu: Link] Über komplizierten Akkorden spielte er wunderbare Melodien. Die Freizügigkeit, mit der er das machte, kam aus dem Blues.
Um 1960 erregte der Saxofonist Ornette Coleman Aufsehen. Er ging von Charlie Parkers Musik aus, dehnte aber die Freizügigkeit extrem aus, indem er die komplizierten Akkorde einfach über Bord warf. Das fanden viele junge Musiker, für die Charlie Parkers Vorbild erdrückend war, befreiend. [Mehr dazu: Link] Manche lösten dann Harmonien und auch den Rhythmus sogar ganz auf. Eine ganze Welle wilder, schräger, avantgardistischer Musik entstand.

Jazz-Kritiker nannten sie Free Jazz.

Den Schulbüchern entsprechend kann man folgende Merkmale aufzählen:

  1. Es gibt wenig Vorgaben für die Improvisation, sodass die Musiker weitgehend ungebunden, frei improvisieren können.
  2. Expressive Klänge ersetzen oft Melodie, Harmonie und Rhythmus.
  3. Neben Solo-Improvisation gibt es auch gemeinsames Improvisieren, also Kollektivimprovisation, aber in ganz anderer Form als im New-Orleans-Jazz.
  4. Oft bleibt der ganze Verlauf der Musik der spontanen Interaktion überlassen.

Als bedeutende Vertreter des Free Jazz werden in Schulbüchern vor allem Ornette Coleman und John Coltrane genannt. Coltrane übernahm jedoch nur zuletzt, in den Jahren 1965-67, viele Free-Jazz-Elemente. [Mehr dazu: Link] In zwei Schulbüchern werden auch Charles Mingus und Lennie Tristano als Vertreter des Free-Jazz angeführt. Das widerspricht aber der vorherrschenden Auffassung in der Jazz-Literatur. [Mehr zu Tristano: Link] Ein wichtiger Initiator der Free-Jazz-Bewegung war hingegen der Pianist Cecil Taylor.

Free-Jazz wird häufig mit der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Verbindung gebracht. Jazz-Musiker nahmen die gesellschaftlichen Verhältnisse schon immer sehr bewusst wahr. Aber politische Agitation war der Jazz selten, auch in den 1960er Jahren. In den Jazz wird seit jeher viel hineininterpretiert.

Wie erkennt man Free Jazz? Im folgenden Beispiel ist alles klar:

          HÖRBEISPIEL: Cecil Taylor: Idut (1978)

Aber Ornette Coleman klingt ganz anders. Er hatte einige hübsche Themen, die fast so eingängig sein konnten wie Kinderlieder.

          HÖRBEISPIEL: Ornette Coleman: Dee Dee (1965)

Auch seine Improvisationen wirken oft sehr natürlich.

          HÖRBEISPIEL: Ornette Coleman: Dee Dee (1965)

Bei folgender Aufnahme von John Coltrane könnte man eher an Free-Jazz denken, aber seine damalige Musik zählt nicht dazu.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Chasin' The Trane (1961)

Ornette Coleman konnte allerdings auch schwer erträglich klingen.

          HÖRBEISPIEL: Ornette Coleman: Dancing In Your Head (1977)

Free-Jazz ist ein diffuser Begriff. [Mehr dazu: Link] Wenn es besonders schräg und schrill klingt, kann man auf Free-Jazz tippen.

Zwei Schulbücher nennen als Jazz-Stil der 1960er Jahre auch die brasilianische Bossa-Nova-Musik, neben dem Free-Jazz. Sie erklären Bossa-Nova als Verbindung von Samba mit Cool Jazz und führen als wichtigste Vertreter Antônio Carlos Jobim und Stan Getz an. Stan Getz war ein US-amerikanischer Saxofonist, der zum Cool Jazz gezählt wurde. Er spielte für die Bossa-Nova-Songs der Brasilianer einige Soli und machte selbst Aufnahmen mit diesen Songs. Das ergibt aber keinen historisch bedeutenden Jazz-Stil. Bossa-Nova gehört nicht hier her. Falls in der Schule aber doch davon die Rede sein sollte: Stan Getz mit Bossa-Nova von Antônio Carlos Jobim klingt so.

          HÖRBEISPIEL: Stan Getz, João Gilberto, Antônio Carlos Jobim: Desafinado (1963)

Der Free-Jazz wirkte auf Hörer sehr anspruchsvoll, schwierig, abschreckend. Zugleich war im Free-Jazz vieles weit unter dem musikalischen Niveau von Meistern wie Charlie Parker. So lehnten nicht nur Hörer, sondern auch viele Musiker den Free-Jazz ab. Durch ihn verlor der Jazz insgesamt viel an Attraktivität.

Um 1970 steuerte Miles Davis dagegen. Er war schon immer geschickt im Erreichen eines größeren Publikums. Nun wandte er sich der Rockmusik zu. Er setzte E-Gitarren, Keyboards und E-Bass ein und spielte über Rock- und Funk-Rhythmen. [Mehr dazu: Link] Aus seiner Band ging eine Reihe von Musikern hervor, die mit eigenen Bands in die gleiche Richtung gingen. Damit kam die erfolgreiche Welle der so genannten Fusion beziehungsweise des Rock-Jazz oder Jazz-Rock ins Rollen.

Hauptmerkmal dieser Musik ist: Im Mittelpunkt stehen die Sounds der elektrischen Instrumente, die damals sehr modern waren. Dazu kommen Rhythmen aus der Tanzmusik. Die musikalische Gestaltung ist vereinfacht, um ein Massenpublikum anzusprechen. Anhänger von anspruchsvollem Jazz empfanden die Fusion-Welle als Ausverkauf. [Mehr dazu: Link und Link]

Schulbücher nennen als wichtigste Vertreter: Miles Davis, Herbie Hancock, Chick Corea, John McLaughlin sowie die Band Weather Report von Joe Zawinul und Wayne Shorter.

          HÖRBEISPIEL: Miles Davis: Miles Runs The Voodoo Down (1969)
          HÖRBEISPIEL: Miles Davis: Tatu (1974)
          HÖRBEISPIEL: Herbie Hancock: Chameleon (1973)

Wie schon bei den 1950er Jahren, so erfasst das Stil-Schema auch bei den 1960er und 70er Jahren gerade den besten, heute noch spannenden Jazz nicht.1) Nach den 1970er Jahren wurden zwar weitere Stil-Bezeichnungen erfunden, doch sahen die Jazz-Kritiker keinen einzelnen Stil mehr dominant im Vordergrund. [Mehr dazu: Link] Manche von ihnen machten den Jazz selbst dafür verantwortlich. Er habe in den letzten Jahrzehnten nichts Überragendes mehr hervorgebracht. Das ist nicht richtig. Geendet hat nicht die kreative Weiterentwicklung, sondern lediglich die Stil-Einteilungen, die schon immer fragwürdig waren. [Mehr dazu: Link]

Mehr auf meiner Website. Links stehen im Video-Text.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman: Menes to Midas (2018)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Zum Beispiel aus den 1960er Jahren Aufnahmen von: John Coltrane (bis 1964/65), Booker Little, Miles Davis; aus den 1970er Jahren Aufnahmen von: McCoy Tyner, Woody Shaw, Von Freeman

 

 


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