Radio
Alle Videos
Startseite

4.) Jazz-Entstehung --- FÜR DIE SCHULE


In den Schulbüchern für den Musikunterricht lese ich: Der Jazz entstand um 1900 in New Orleans und entscheidend war, dass diese Stadt ein Schmelztiegel vielfältiger Ethnien und Kulturen war.

Das ist jedoch alles nicht ganz richtig: Erstens war die Entstehung des Jazz, wie man ihn heute versteht, ein längerer Prozess. Zweitens fand dieser Prozess nicht nur in New Orleans statt und drittens ist der Jazz kein Produkt eines Schmelztiegels, sondern einer afro-amerikanischen Subkultur.

Beginnen wir im Jahr 1917: Damals wurden in New York Schallplattenaufnahmen von einer „weißen“ Band gemacht, die sich Jazz-Band nannte, Original Dixieland Jazz Band. Das Wort „Jazz“ stammte aus dem Sport und bedeutete so viel wie Schwung, Power. Die Band kam aus New Orleans und ihre Musik war eine Nachahmung von Spielweisen, die Afro-Amerikaner dort entwickelten. In New Orleans wurde diese Musik aber nicht als Jazz bezeichnet. Die Original Dixieland Jazz Band wurde mit ihren Schallplatten sehr erfolgreich. Sie löste eine internationale Tanzmusik-Modewelle aus und es entstanden viele ähnliche Dixieland Bands. Jazz wurde zu einem Modewort. Alle möglichen Musikarten wurden nun Jazz genannt. Der Komponist George Gershwin sagte 1926: Der Ausdruck Jazz wird für so unterschiedliche Musik verwendet, dass er aufgehört hat, irgendeine bestimmte Bedeutung zu haben. In den 1930er Jahren begannen dann die ersten Jazz-Kritiker, das waren im Grunde einfach Jazz-Fans, darüber zu diskutieren, was „echter“ Jazz ist. In vielen Diskussionen über viele Jahre hinweg kristallisierten sie allmählich das heute übliche Verständnis des Jazz-Begriffs heraus. Nun ist Jazz keineswegs mehr bloß die banale Tanzmusikmode der Original Dixieland Jazz Band, sondern eine im Kern afro-amerikanische Musiktradition, die zu den kunstvollsten Musikarten der Erde zählt.

Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage nach der Herkunft des Jazz neu. Woher kommen seine Besonderheiten, die ihn von anderen Musikarten unterscheiden? Woher kommt seine spezielle Rhythmik, sein besonderer Sinn für Bewegung, seine Improvisation, seine Art, aus der europäischen Harmonie auszubrechen und eigenständige melodische Linien zu bilden? Woher kommt seine Vorliebe für nicht-europäische Klänge und seine Flexibilität der Tonhöhen? Die Forschung hat ergeben: Die Besonderheiten des Jazz stammen aus einer afro-amerikanischen Subkultur.

Diese Subkultur prägte in Wellen immer wieder die amerikanische Musikgeschichte. Noch in der Zeit der Sklaverei führte die Banjo- und Fidel-Musik der Afro-Amerikaner dazu, dass die amerikanische Country-Musik anders klingt als europäische Volksmusik. Später übertrugen Afro-Amerikaner ihr Banjo-Spiel auf das Klavier und so entstand der Rhythmus des Ragtime. Der Ragtime war lange Zeit viel mehr als die Klavierkompositionen, die heute als Ragtime verstanden werden. Vor 1917 zählte zum Ragtime auch die Musik, die heute Jazz genannt wird. Der Ragtime-Rhythmus war in den gesamten USA und darüber hinaus der moderne Rhythmus der jungen Leute. Er kam wie der Blues und der Boogie Woogie aus der afro-amerikanischen Subkultur der Südstaaten, aber nicht speziell aus New Orleans. Eine Besonderheit von New Orleans war aber, Blasinstrumente mit starkem Blues-Ausdruck zu spielen. Und das wurde für die weitere Entwicklung des Jazz sehr wichtig. Insofern hat New Orleans sehr wohl einen besonderen Stellenwert in der Jazz-Geschichte.

Die Unterscheidung von Jazz, Blues und Ragtime gab es ursprünglich nicht, sondern entstand erst durch das Musikgeschäft. Frühere Musiker, die heute zum Blues gezählt werden, spielten viele Rags, selbst in den 1920er Jahren noch, wie folgende Aufnahme zeigt:
          HÖRBEISPIEL: Cannon’s Jug Stompers: Hollywood Rag (1928)

Die Pianisten der Kneipen konnten meistens nicht notenlesen und improvisierten ihre Rags daher mehr oder weniger. Sie verragten alles, was sie brauchen konnten, manchmal sogar Stücke aus der „klassischen“ Musik. Aus der frühen Zeit gibt es keine Aufnahmen, aber spätere Aufnahmen von älteren Musikern geben eine Vorstellung, wie das klang. Der folgende Pianist konnte nicht notenlesen, spielte aber dennoch Beethovens Mondscheinsonate – auf eigene Weise:
          HÖRBEISPIEL: Donald „The Lamb“ Lambert: Moonlight Sonata (1960)

Es gab auch rauere Pianisten, die zum Beispiel auf folgende Art Rags spielten:
          HÖRBEISPIEL: Cow Cow Davenport: Atlanta Rag (1929)

Diese raueren Pianisten gingen dann in Richtung Boogie Woogie, der heute zum Blues gezählt wird:
          HÖRBEISPIEL: Meade „Lux“ Lewis: Yancey Special (1936)

Aber auch die versiertere Piano-Linie, die heute zum Jazz gezählt wird, konnte beträchtliche Mengen Blues enthalten:
          HÖRBEISPIEL: Jelly Roll Morton: New Orleans Blues (1949, Library Of Congress Recordings)

Auch Blasinstrumente wurden zu Ragtime-Rhythmen gespielt und in New Orleans mit viel Blues-Feeling. Die folgende Aufnahme von Louis Armstrong aus den 1920er Jahren macht deutlich, wie Blues auf Blasinstrumenten klingen kann. Armstrongs bluesige Spielweise beruhte auf einer langen Tradition, auch wenn er darin eine neue Meisterschaft erreichte.
          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Seven: Wild Man Blues (1927)

In diesem Geflecht aus Rags und Blues einen Zeitpunkt zu finden, der den Beginn des Jazz markieren soll, ist nicht möglich – auch, weil es aus der Zeit vor 1920 kaum Aufnahmen von afro-amerikanischen Musikern gibt. Louis Armstrongs Aufnahmen der 1920er Jahre sind dann aber bereits bedeutende Meisterwerke des Jazz.

Nun noch kurz zur Schmelztiegel-Geschichte: Das Umfeld von New Orleans, aus dem Louis Armstrong und seine Vorläufer kamen, war alles andere als ein multikulturelles Miteinander. Armstrong wuchs mit der Musik der Straßen, Kneipen und ekstatischen Kirchengemeinden seiner afro-amerikanischen Nachbarschaft auf – auf der untersten Ebene der sozialen Hierarchie, ausgegrenzt, verachtet und von Gewalt bedroht. Diese diskriminierte afro-amerikanische Bevölkerungsgruppe entwickelte ihre eigene, raue Blasmusik und die kam dann auch bei anderen jungen Leuten so gut an, dass die sozial höher gestellte Schicht der so genannten „farbigen“ Kreolen sie zu übernehmen begann. Die Kreolen konnten Noten lesen und in der geschulten Art der „Weißen“ spielen. Es kam zu musikalischen Wettkämpfen und einem Austausch zwischen Kreolen und Afro-Amerikanern. Musiker wie Armstrong wurden dadurch vielseitiger und professioneller und sie nutzten das, um ihre Tradition in ihrer eigenen Art weiterzuentwickeln. Diese Musik war also keineswegs eine bloße Mischung verschiedener Einflüsse, sondern eine im Kern spezifisch afro-amerikanische Errungenschaft.

Das Bild eines Schmelztiegels, das von New Orleans immer wieder entworfen wird, romantisiert und verschleiert die rassistischen Verhältnisse. Mit der Original Dixieland Jazz Band begann eine lange Tradition des Erfolgs „weißer“ Jazz-Musiker auf dem Rücken von Afro-Amerikanern. Aufgrund des Rassismus hatten die afro-amerikanischen Musiker laufend das Nachsehen.

Mehr zur Entstehung des Jazz auf meiner Website. Die Adresse steht in den Video-Infos.

 

Mehr zur Entstehung des Jazz: Link

Alle Video-Texte

 


Kontakt / Offenlegung