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JAZZ ESSENZ – 7. Tanz


Jazz war ursprünglich Tanzmusik, und zwar oft mitreißende.

          HÖRBEISPIEL: Count Basie and His Orchestra: Every Tub (1938)

In Wirklichkeit klang diese Tanzmusik noch wesentlich aufregender als in den technisch dürftigen Aufnahmen der damaligen Zeit. Es gab kein Internet und kein Fernsehen, Unterhaltungsmöglichkeiten waren rar und Tanzveranstaltungen am Wochenende daher sehr gefragt. Heute kann man mit wenigen Instrumenten einen Riesenkrach erzeugen, aber damals – ohne Verstärkeranlagen – brauchte es eine Bigband, um einen Tanzsaal mit Musik zu füllen. Lautstark waren vor allem die Blasinstrumente – die Trompeten, Posaunen, mehrere Saxofone und Klarinetten zusammen. Die Bläser trugen viel zum antreibenden Tanzrhythmus bei:

          HÖRBEISPIEL: Count Basie and His Orchestra: Jumpin' At The Woodside (1938)

Im Untergrund gab es schon früh auch Auftritte von Jazz-Musikern, bei denen sie ihr Können präsentierten, ohne dass dazu getanzt wurde.1) Als sich eine größere Zahl von Jazz-Fans dafür interessierte, wurden solche Auftritte für sie veranstaltet.2) Daraus entstand allmählich die heute vorherrschende Form des Jazz-Hörens: Man sitzt da und hört zu. Ältere Musiker bedauerten diese Entwicklung. Ein Posaunist der Count-Basie-Band (Dicky Wells) sagte: „Es war einfach mehr Seele drin, als Jazz und Tanzen zusammengehörten.“3) Aber die Meister des Jazz gaben den Tanz nicht wirklich auf. Er verlagerte sich nur. Die Meister scheinen selbst wie Tänzer zu spielen und ihre melodischen Bewegungen sind so geschickt, dass sie jeden körperlichen Tanz verblassen lassen. Empfängliche Zuhörer schwingen innerlich mit. Äußerlich zeigt sich das in kleinen Körperbewegungen wie einem Fußwippen. Dizzy Gillespie sagte: „Meine Musik ist mehr zum Zuhören bestimmt, aber dennoch bringt sie dich dazu, mit dem Kopf zu wackeln und mit dem Fuß zu klopfen. Wenn ich ins Publikum schaue, während wir spielen, und niemand macht das, dann weiß ich, dass wir das Publikum nicht wirklich erreichen.“4)

Kunstmusik im europäischen Sinn distanziert sich weitgehend vom Bewegungsgefühl der Volks- und Popmusik. Die Kunst der Jazz-Meister hingegen baut auf einer reichen afro-amerikanischen Subkultur auf, die auf stilvolle Bewegung Wert legt, nicht nur in Musik und Tanz, sondern auch im Sport und in anderen Lebensbereichen. Bereits auf der volkstümlichen Ebene kommt es auf Gewandtheit, Lässigkeit, Reaktionsfähigkeit und Einfallsreichtum an. Die Meister des Jazz treiben das in ihrer Musik auf die Spitze, besonders mit ihrem melodischen Spiel. Diese Kunst der Bewegung trägt entscheidend dazu bei, dass ihre Musik ein unmittelbar befriedigendes Hörerlebnis ergibt.

Ich habe es immer wieder erlebt, dass mir Charlie Parkers Melodielinien so in die Knochen fuhren, dass ich unwillkürlich aufstand und zu tanzen begann, zum Beispiel bei diesem Solo:

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Bluebird (1947)

Charlie Parkers Spiel enthält viele kleine melodische Figuren, die so schnell ablaufen und raffiniert gestaltet sind, dass ich sie oft nur in groben Zügen mitbekomme – aber doch gut genug um zu spüren, wie elegant diese Kurven, Schwünge und feinen rhythmischen Verschiebungen sind. Wenn ich in lockerer Verfassung und aufnahmebereit bin, kann diese Musik faszinierende Bewegungsgefühle auslösen.

Dasselbe erlebe ich mit Steve Colemans Musik, obwohl die ein viel komplizierteres rhythmisches Fundament hat. Charlie Parkers Musik beruht auf einem einfachen klaren Puls oder Beat, der vom so genannten Walking-Bass dargestellt wird, also dem gehenden oder laufenden Kontrabass:

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Bluebird (1947)

Steve Colemans Musik liegt ebenfalls ein Puls zugrunde, aber der wird nicht in einfacher Weise dargestellt, sondern ergibt sich aus einem komplexen rhythmischen Geflecht. Das braucht ein wenig Einhören. Umso spannender und reichhaltiger ist dann jedoch der Groove, den man erlebt:

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Adrenal, Got Ghost (2012)

Steve Coleman hat viele solche rhythmischen Geflechte geschaffen, die keineswegs bloß kompliziert sind, sondern einen starken Groove entfalten, in bester afro-amerikanischer Tradition. Darüber spielt er auf dem Saxofon brillante melodische Linien und die sprühen durch all die spannenden Beziehungen zum Rhythmusgeflecht:

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Attila 04 (Closing Ritual) (2006)

Charlie Parkers und Steve Colemans unterschiedliche rhythmische Fundamente liegen auf einer langen Entwicklungslinie, die ich im nächsten Video ein wenig darstelle.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. zum Beispiel die Auftritte und Wettkämpfe von Pianisten in Kneipen, Louis Armstrongs Show-Einlagen in Chicago (Näheres: Link) und vor allem die so genannten Jam-Sessions (Näheres: Link)
  2. Näheres: Link
  3. Quelle: Link
  4. Quelle: Link

 

 


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