Radio
Alle Videos
Startseite

JAZZ SPIRIT – 9. Schönheit


          HÖRBEISPIEL: Don Cherry: California (1976)

Meer, Sonne, Kalifornien (nach dem Titel des Stücks), unbeschwertes, seelenvolles Lebensgefühl. Die Musik kann das mitunter stärker vermitteln, als es in Wirklichkeit möglich wäre. Der Trompeter Don Cherry hatte einen speziellen Spirit in seiner Musik. Dieses Stück ist allerdings sehr kurz und auch sonst halten selige Stimmungen nicht lange an. Wir Menschen sind von Natur aus selten zufriedene Genießer. Ein Wissenschaftler sagte zur Frage, was uns vom Neandertaler unterscheidet: Wir sind einfach verrückt. Kein Neandertaler wäre auf das Meer hinausgesegelt ohne Land in Sicht. Wir schon und viele starben dabei.1)

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: One Up, One Down (1963)

John Coltrane erklärte einmal, die Musik sei für ihn eine Art zu sagen: Das ist ein großes, wunderschönes Universum, in dem wir leben. Das wurde uns gegeben. Hier ist ein Beispiel dafür, wie prachtvoll es ist.2) – Schon damals, 1961, klang seine Musik gewaltig und später geradezu erschreckend.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: One Up, One Down (1965)

So prachtvoll man das Universum auch finden kann: Wir wirken darin verloren – als eines von unzähligen, winzigen, belanglosen Lebewesen, die entstehen und vergehen; eingesponnen in unsere traumartigen Vorstellungen, die wir als Realität erleben; außerstande, wenigstens die Verhältnisse unter uns Artgenossen einigermaßen zufriedenstellend zu regeln.
Es ist eine schwer erträgliche Perspektive. Zuhause fühlen wir uns in unseren menschlichen Geschichten.

          HÖRBEISPIEL: Miguel Aceves Mejía: Cucurrucucu Paloma (1958)

Dieses einfache, alte, mexikanische Lied drückt Schmerz über den Verlust einer geliebten Person aus. Unsere menschlichen Bindungen verankern uns in der Welt und können auch zu entfernten, verstorbenen, manchmal sogar imaginären Personen bestehen.
Man will sich oft nicht von so purer Emotion wie in diesem Lied berühren lassen und belächelt solche Musik vielleicht. Spiegelt sie jedoch eigene Erfahrung wider, dann kann sie eine ergreifende und wohltuende Resonanz auslösen. Auch holt die Musik manchmal Gefühle hervor, die sonst von den alltäglichen Anforderungen und Ablenkungen verschüttet werden – eine Traurigkeit, eine Enttäuschung, die sich allmählich angesammelt hat, Wehmut.

Unser Selenleben ist allerdings komplexer, als es ein einfaches Lied ausdrückt. Gefühle sind vielschichtig und verwoben mit dem unablässigen Fluss der Gedanken. Die Musik der Jazz-Meister kann dieses innere Geschehen differenzierter ansprechen.

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: The First Time I Ever Saw Your Face (1972)

Während wir mit unseren Bedürfnissen, Nöten und Wünschen beschäftigt sind, drohen wir mit unserem rastlosen Streben, mit unserer Verrücktheit unsere natürliche Lebensgrundlage auf der Erde zu zerstören. Klimaerwärmung, Artensterben, Vermüllung der Meere, Schwinden von Ressourcen zwingen uns nun doch zur großen, unbehaglichen Perspektive. Diese Folgen unserer Lebensweise bedrohen uns verzögert. Nur vorausschauendes Handeln kann fatale, unumkehrbare Entwicklungen abwenden. Sind wir Menschen dazu ausreichend, weltumspannend in der Lage?

Wer Reichtum und Macht hat, verzichtet nicht darauf im gemeinschaftlichen Interesse. Mehrheiten lassen sich immer wieder täuschen. Trügerische Hoffnungen und Resignation vergeben noch bestehende Chancen. Als einzelner ist man machtlos. Entscheidend sind gesellschaftliche Prozesse und letztlich sind wir Teil der Natur, die mit ihrem herzlosen Spiel des Entstehens und Vergehens erschreckend ist.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and the Council Of Balance: Genesis - Day One (1997)

Bedrohungen schließen Schönheit nicht aus. Auch alte Leute erleben Schönheit, trotz des herannahenden, immer wahrscheinlicher werdenden Endes. Gerade das drohende Ende macht Schönheit kostbar. Man versucht, die Katastrophe mit allen Mitteln zu verhindern oder hinauszuschieben und zugleich die Zeit möglichst unerschrocken für Freude, Schönheit zu nutzen. Das gibt Kraft durchzuhalten.

Menschen leben seit jeher in Bedrohung – durch Naturgewalten, Krankheiten, Überfälle, Kriege, Hungersnöte. Leid und Tod waren stets Begleiter. Die erhebenden Meisterwerke des Jazz kommen von Musikern aus afro-amerikanischen Gettos, die Abgründe nur zu gut kennen. Ihr Spiel ist wagemutig, riskant, voller menschlicher Verrücktheit und verleiht unserer Lebendigkeit Schönheit.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Triad Mutations II (2004/2005)

Großartiger Jazz beruht auf völliger Hingabe an die Musik, an das musikalische Gestalten, Ausdrücken und Kommunizieren. Kreative Meister entwickeln ihre Musik ohne Rücksicht auf Verkaufszahlen. Sie verkörpern eine Lebensweise, die auf geistvolle Entfaltung der Lebendigkeit konzentriert ist. Materielle Dinge sind bloß Werkzeuge. Konsumlust, Anhäufen von Gütern und Macht wirken schal.

Gier zerstört Solidarität, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Das Vertrauen in demokratische Werte schwindet und wird von Irrationalität und Destruktivität ersetzt. Skrupellose, Verrückte beherrschen die Lebensverhältnisse und überwunden geglaubte Schrecken der Vergangenheit tauchen wieder auf. Wie kamen die Leute früher zurecht? Wie hielten sie in düsteren Zeiten den Lebensmut aufrecht? Musik war oft hilfreich und Jazz schon immer besonders stark.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Seven: Weary Blues (1927)

Im alten New Orleans, aus dem Louis Armstrong kam, erklärte der Bruder eines angesehenen Musikers: Für Afro-Amerikaner muss man richtig hart spielen, ständig Dampf aufsetzen, Drive haben.3) – Harmonische, geglättete, liebliche Klänge wären für die armen, diskriminierten Leute wohl zu unrealistisch gewesen. Ihre Musik entsprach ihrem rauen Leben, berührte tiefgehend und bereitete Freude. Mit unverwüstlicher guter Laune, purer Lebenslust riss sie die Menschen aus ihrem düsteren Alltag. Das machten dann auch Bigbands in New York.

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: Main Stem (1942)

Die gute Laune wurde vor allem in Form von lustvollem Bewegungsgefühl vermittelt. Mit Tanz verschafften sich Menschen schon vor Jahrtausenden Lebensfreude und Lebenskraft.

Später traten im Jazz spannende Improvisationen in den Vordergrund, denen die Zuhörer folgten ohne zu tanzen. Das Bewegungsgefühl ist dabei dennoch innerlich aktiv und für das Erfassen dieser Musik wichtig.

In der Fähigkeit, anderen zu folgen, sich in sie hineinzuversetzen, sich zu verständigen, sind wir Menschen allen anderen Tieren weit überlegen. Das ermöglichte uns das Überleben in unserer ursprünglichen Umgebung und ist ein wesentlicher Teil unserer Intelligenz.4)

In hervorragenden Jazz-Bands wirken die Musiker kreativ und hochsensibel zusammen und schaffen so großartige Gruppenergebnisse. Das ist ein eindrucksvolles Beispiel für die herausragende menschliche Fähigkeit zu kooperieren.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Klact-oveeseds-tene (1947)

Die besondere Schönheit dieser Musik besteht nicht in einem vordergründigen Reiz, etwa angenehmen Klängen und Stimmungen, sondern in der Raffinesse der melodischen Linien und rhythmischen Verflechtungen.

Angenehmes spricht einen oft sehr unmittelbar an: eine prächtige Landschaft, hübsche Dinge, Sinnlichkeit und so weiter. Es gibt aber auch anspruchsvollere Formen von Schönheit, die Verständnis erfordern und so dem instinktiven Empfinden eine geistige Ebene hinzufügen. Solche Schönheit findet man zum Beispiel in kreativen Gedanken, die Zusammenhänge erfassen, Sinn vermitteln – auch in der Art, wie manche Menschen einfühlsam miteinander umgehen, sich für eine gute Sache einsetzen, mit widrigen Umständen zurechtkommen. Und in anspruchsvoller Weise schön ist eben auch Musik, die nicht bloß ins Gefühl geht, sondern zusätzlich das Auffassungsvermögen herausfordert und faszinierende Strukturen offenbart.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Pad Thai – Mdw Ntr (2018)

Die Strukturen dieser Musik sind extrem clever, dicht, undurchschaubar und doch kann sich einfach durch Hören ein Gespür für sie entwickeln. So regt die Musik das intuitive Erfassen eines komplexen Geschehens an. Diese Fähigkeit hilft, in der hochkomplizierten Welt geschickt durchs Leben zu kommen und das Dasein soweit wie möglich zu begreifen. Aus unserer menschlichen Sicht ist es ein wunderbares Phänomen, dass Materie im Universum einen Geist ergab, der sagen kann: Hier bin ich, es gibt mich – eine Zeit lang.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Little Girl I’ll Miss You (2018)

 

Alle Video-Texte

——————————————————

Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quelle: Artikel Wir sind verrückt, Zeitschrift Der Spiegel, Nummer 10, 2014, S. 96-100, Internet-Adresse: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/125300691
  2. Näheres: Link Unsichtb.Formen.html „Coltrane sagte einmal“
  3. Näheres und Quelle: Link Sound/Menschl.Sound.html Der Bruder des berühmten New Orleanser
  4. Gerhard Roth: „Der syntaktisch-grammatikalischen Sprache scheint bei den kognitiven Leistungen des Menschen eine Schlüsselrolle zuzukommen, denn sie ermöglicht eine Art des Denkens, die allem nichtsprachlichen Denken haushoch überlegen ist. Der menschlichen Sprache liegt das Grundvermögen zur gedanklichen Bewältigung zeitlich aneinandergereihter Zeichen und Ereignisse zugrunde, und es ist gleichgültig, ob es dabei um gesprochene oder geschriebene Worte, Gebärden oder zu betätigende Tasten geht. (QUELLE: Gerhard Roth, Wie einzigartig ist der Mensch?, 2010, Kindle-Version, Position 3320-3322)

 

 

 

Kontakt / Offenlegung