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In folgenden deutschsprachigen Büchern finden sich Ausführungen zur Musik von Steve Coleman:
Christian Broecking erwähnte in seinem 1995 erschienen Buch Der Marsalis-Faktor, der Klarinettist Don Byron zähle Steve Coleman zu den „Ausnahmepersönlichkeiten der amerikanischen Musikgeschichte“ und Jazz-Kritiker würden Steve Coleman die Sicherung der „Generationennachfolge im Jazz bescheinigen“.1) Ansonsten enthält dieses sowie Broeckings Buch Respekt! (2004) in Bezug auf Coleman im Wesentlichen Interview-Auszüge, die Einblicke in Colemans damalige Lage, in seine Haltung als kreativer Musiker und in die allgemeine Situation der Jazz-Szene aus seiner Perspektive geben.
Für das von Peter Niklas Wilson herausgegebene Buch Jazz Klassiker verfasste Martin Pfleiderer einen Beitrag2), der Colemans Werdegang und Anliegen darstellt und insofern als zutreffend erscheint (abgesehen von einzelnen Punkten3)). – Allerdings meinte Pfleiderer, Coleman habe bereits in den Gruppen von Dave Holland „einige seiner schönsten Aufnahmen gemacht“.4) Diese Aussage ist ebenso abwegig, als würde man behaupten, Coltrane habe nach seinen ersten Aufnahmen als Mitglied der Miles-Davis-Band (1955/1956) keine wesentlich „schönere“ Musik hervorgebracht als bereits damals. Hätte Pfleiderer Recht, so hätte Coleman mit der Entwicklung, Ausreifung und laufenden Weiterentwicklung seiner eigenen Musik keinen wertvolleren Beitrag geleistet als zu Beginn seiner Laufbahn, als er noch wenig erfahren war und in der Band eines Älteren mitwirkte. Das würde eine weitgehende Bedeutungslosigkeit seines gesamten Weges als Bandleader und Schöpfer einer eigenen Musik bedeuten. Seine Improvisationsweise war zwar bereits früh beeindruckend gewandt und mit ihrem eigenwilligen Charme bestechend, doch erreichte sie erst später ihre Höhepunkte an Klarheit, Logik, Vielfalt und Ausdruckskraft. Coltrane hatte hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten seiner Improvisationskunst ja auch nicht bereits in den 1950er Jahren einen Plafond erreicht. In Wahrheit fühlte sich Pfleiderer wohl schlicht vom traditionelleren Stil der Holland-Band mehr angesprochen als von Colemans neuartiger Musik. Das ist zweifellos legitim, nur ist es merkwürdig, dass der Buchbeitrag über Coleman ausgerechnet von jemandem verfasst wurde, dem Colemans eigene Musik weniger liegt.
Ekkehard Jost beschäftigte sich in seinem Buch Sozialgeschichte des Jazz sieben Seiten lang mit dem Thema „M-Base: Neues Label, Musikerkooperative oder Clan?“.5) Nach seiner Darstellung war M-Base ein nicht recht enträtselbares „Etikett“, mit dem sich eine Clique junger Musiker Aufmerksamkeit und Zugang zum Musikgeschäft verschaffte. Nachdem das für die wichtigsten M-Base-Vertreter in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durch Verträge mit großen Firmen klappte, habe sich M-Base zurückverwandelt in ein „individuelles Markenzeichen“ seines Erfinders Steve Coleman. – Diese (hier verkürzte) Darstellung ergibt ein verzerrtes Bild. Zwar spielten bei den Initiativen des M-Base-Kreises geschäftliche Belange natürlich eine bedeutende Rolle und Steve Coleman erwähnte, dass manche Partizipanten lediglich am eigenen Erfolg interessiert waren6), doch war das Geschäft nicht das eigentliche Anliegen der Bewegung. Auch wurde der Name M-Base erst als Reaktion auf ein Interesse von Journalisten an diesem Kreis junger Musiker geschaffen, und zwar um eine unbefriedigende Namensgebung durch Journalisten abzuwehren. Die offen gehaltene Bedeutung des M-Base-Begriffs, die Jost kritisierte, diente dazu, sich Kategorisierungen, wie sie auch Jost ausgiebig benutzte, zu entziehen.7) Josts Beschreibung der Musik von Steve Coleman enthält zwar ebenfalls einige zweifelhafte Aussagen8), ist jedoch im Wesentlichen treffend und wertschätzend. So sprach er zum Beispiel von Colemans „zirkulären und hochgradig komplexen, polymetrischen Patterns, die sich jedoch ungeachtet ihrer internen Komplexität und Asymmetrie durchaus den tanzbaren Charakter von populären Funkrhythmen bewahren“. Insgesamt gesehen sei „dies eine sehr intelligente“ Musik, die „hip ist wie schon lange keine mehr zuvor und die mannigfache stilistische Erfahrungen verarbeitet, ohne ihre afroamerikanische Identität preiszugeben.“9) Umso unverständlicher ist es, warum Jost dann einige Seiten weiter in ein Jazz-Endzeit-Lamento verfiel und gar meinte, dass die „Geschichte des amerikanischen Jazz bereits in den 1970er Jahren weitgehend zum Stillstand gekommen“ sei und die „wichtigen kreativen Impulse des Jazz ohnehin seit geraumer Zeit von Europa ausgehen“ würden, auch wenn das von der amerikanischen Jazzpublizistik ignoriert werde.10) In Wahrheit sind die in Europa gepflegten Spielarten von der spezifisch afro-amerikanischen Jazz-Qualität der Steve-Coleman-Musik ebenso weit entfernt wie früher von der Brillanz Charlie Parkers und John Coltranes.
In der von Günther Huesmann fortgeführten 7. Ausgabe des Jazzbuchs wird von Steve Coleman gesagt, er wirke wie ein Charlie Parker der heutigen Zeit.11) Allerdings wird Colemans Musik in irreführender Weise kategorisiert: Eine Grafik führt die M-Base-Bewegung, deren bedeutendster Vertreter Coleman war, als einen der so genannten Stile des Jazz an12), obwohl Coleman und andere wiederholt darauf hinwiesen, dass M-Base nicht als Stil zu verstehen ist. Noch dazu stellt die Graphik „M-Base“ als Weiterentwicklung von „Free-Funk“ und diesen als Weiterentwicklung von „Jazz-Rock, Fusion“ dar und in Ausführungen des Buchs zu „Free-Funk“ wird Steve Colemans Five-Elements-Band in einer Reihe von Musikern angeführt, die „nachhaltig“ auf Ornette Coleman bezogen seien.13) In Wahrheit wurde Steve Coleman weder von Ornette Coleman noch von anderen Musikern, die Berendt/Huesmann zu „Free-Funk“ zählten, beeinflusst.14) Colemans Musik als Ableitung aus der „Jazz-Rock-Fusion“ anzusehen, ist ebenso verfehlt, als würde man Charlie Parkers Musik als Fusion aus Blues, Unterhaltungsmusik und Jazz beschreiben. Die Musikarten, mit denen Charlie Parker aufwuchs, waren selbstverständlicher Teil seiner musikalischen Sprache. Genauso ist Steve Colemans Musik von seinen musikalischen Erfahrungen geprägt, ohne dass sie als „Fusion“ zu verstehen wäre.
Das Jazzbuch baut großteils auf problematischen „Stil“-Kategorien und konstruierten Beziehungen zwischen ihnen auf und so enthält es kuriose Beschreibungen wie folgende: „Motown plus irreguläre Metren – das ist M-Base – und dazu kommt das ganze Spektrum neu gewonnener Möglichkeiten des multistilistischen Jazz der neunziger Jahre.“15) Coleman habe eine besonders gelungene „Integration von Rock-orientierten Spielweisen, zeitgenössischen Jazzformen und weltmusikalischen Einflüssen“ erreicht.16) – In Wahrheit spielte die Soul-Musik, für die die Motown-Firma bekannt wurde, mit ihrer relativ wenig interessanten Rhythmik kaum eine Rolle für Coleman. Bedeutend war für ihn vielmehr James Brown. Colemans Musik ist keineswegs „multistilistisch“, sondern konsistent, eigenständig und das Ergebnis einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit grundlegenden musikalischen Mechanismen, keine oberflächliche „Stil“-Mischung. Die Wahrnehmung von „Multistilistik“ ist lediglich die Folge einer den „Stil“-Kategorien verhafteten Art der Betrachtung. Mit Rockmusik scheint Coleman nie in nennenswerter Weise in Berührung gekommen zu sein. Was auch immer unter „zeitgenössischen Jazzformen“ zu verstehen ist, so waren es jedenfalls nicht die „freien“ Spielweisen, die Coleman ansprachen, sondern einzelne, damals kaum wahrgenommene Ideen wie die von Doug Hammond. Avantgardistisch ausgerichtete Jazz-Musiker scheinen für Coleman insofern ein Vorbild gewesen zu sein, als sie kompromisslos ihre eigenen, individuellen Wege beschritten und sich damit kreativ entfalteten. In besonderem Maß wurde Coleman jedoch von alten Meistern wie Charlie Parker, John Coltrane und Von Freeman beeinflusst. „Weltmusik“ im üblichen Sinn einer mehr oder weniger gefälligen Fusion von Jazz mit nicht-westlicher Musik entspricht nicht den Intentionen Colemans.17) Die Einbindung von Musikern aus nicht-westlichen Ländern in seine Ensembles betraf meistens Perkussionisten aus Lateinamerika und erfolgte in der Regel so vollständig, dass nicht der Eindruck einer Mischung oder Begegnung unterschiedlicher Musikkulturen entsteht.18)
Huesmann charakterisierte Colemans Musik als die „metrische ‚Verrätselung’ des Jazz“.19) Genauso gut könnte man Charlie Parkers und John Coltranes Musik als „Verrätselung des Jazz“ bezeichnen, denn sie steigerten ebenfalls in gewissen Aspekten die Komplexität der Musik erheblich. Tatsächlich wird ihre Musik bis heute im Allgemeinen nicht in ihrer ganzen Tiefe erfasst20), aber (zumindest im Rückblick) dennoch nicht als „verrätselnd“, sondern als ausgesprochen organisch und bewegend wahrgenommen. Ebenso kann bei entsprechendem Zugang auch Steve Colemans Musik erlebt werden. Große rhythmische Komplexität ist in manchen afrikanischen Kulturen und auch in afro-kubanischer Musik eine selbstverständliche Qualität, die durchaus nicht als rätselhaft empfunden wird, auch wenn die Strukturen von Hörern nicht immer bis in letzte Details durchschaut werden. Rätselhaft waren afrikanische Rhythmen lediglich für Outsider, zum Beispiel für Musikwissenschaftler aus dem Westen, die anfangs bei der Anwendung ihres Taktsystems zu verwirrenden Ergebnissen gelangten. Auch wenn Colemans Rhythmen keine einheitliche metrische „Eins“ enthalten, so sind sie doch in Bezug auf einen grundlegenden Puls (der eine Art „Metronom-Sinn“ erfordert21)) zu hören und damit in einer Weise, die mit Tanzmusik verbunden ist. Bedenkt man, dass die Rhythmik eine zentrale Bedeutung in der von Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane repräsentierten Musiktradition hat, dann kommt Steve Coleman allein schon durch die Entfaltung eines alle bisherigen Maßstäbe überschreitenden rhythmischen Reichtums ein besonderer Stellenwert in der Weiterentwicklung dieser Musik zu.
In Martin Kunzlers Jazz-Lexikon22) wird auch das Spiel Colemans auf dem Sopransaxofon erwähnt. Davon gibt es aber keine offizielle Aufnahme und die inoffizielle stammt aus seiner frühesten Zeit, als er noch Mitglied der Mel Lewis-Bigband war. Seinen Ton auf dem Alt-Saxofon beschrieb Kunzler als „kristallklar“, was an Durchsichtigkeit, Farblosigkeit, Kälte und Härte denken lässt und damit eine unzutreffende Vorstellung erweckt. Wie expressiv Colemans Ton in Wahrheit bereits im Jahr 1990 war, ist zum Beispiel im Stück Ain’t Goin’ Out Like That des Albums Rhythm People zu hören. – Außerdem behauptete Kunzler Ähnlichkeiten mit Anthony Braxton und Arthur Blythe und das ist irreführend, denn Colemans Saxofonspiel sowie seine Musik insgesamt liegen keineswegs auf deren Linien. Auch die Bezeichnung der Coleman-Musik als „Postbop“ und die Verwendung des Begriffs „Rock" ergeben ein falsches Bild.
Wolf Kampmann bezeichnete in Reclams Jazzlexikon23) die frühe Five-Elements-Band als „schwarznationalistisch“. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich auch nur eines der Bandmitglieder in nennenswertem Maß politisch engagiert hätte. Kampmann scheint somit lediglich gemeint zu haben, dass diese Musiker eine ausgeprägte afro-amerikanische Identität hatten. Der negativ gefärbte, mit „rechts“-gerichteter Politik verknüpfte Ausdruck „nationalistisch“ ist hier aber unangemessen. Man bezeichnet ein „weißes“ Kammermusik-Ensemble, dessen Mitglieder sich mit europäischer Kultur und einem entsprechenden Bildungsbürgertum identifizieren, ja auch nicht als „weißnationalistisch“. Im Übrigen gibt Kampmanns Eintrag zu Steve Coleman kaum Anlass zu Kritik.24)
Chris Parker schrieb im Rough Guide Jazz, in Colemans Alben ringe sein „kristallklares, trockenes und virtuoses Altsaxofon“ mit einer „eigenwilligen Mischung aus Rhythmen von der Straße – von HipHop und Rap bis zum Funk, Jazz und Soul“.25) Kristallin und trocken ist Colemans Ton nicht und seine Rhythmen sind nicht einfach eine Mischung aus irgendwelchen Black-Music-Arten, sondern beruhen auf spezifischen Ideen, die auch ein west-afrikanisches Modell umfassen und die Coleman zu einem klaren Konzept ausreifte.26) HipHop, Rap und Soul spielten dafür keine Rolle. Colemans Album The Sonic Language of Myth (1998) beschwor in Chris Parkers Ohren „Sun Ra, Anthony Braxton und Prince“ herauf, wie er schrieb. Das ist jedoch ein subjektiver, objektiv nicht gerechtfertigter Eindruck, denn mit Sun Ra hatte Coleman lediglich den Alt-Ägypten-Mythos, mit Braxton ebenfalls nur allfällige ähnliche Weltanschauungen und mit Prince gar nichts gemeinsam.
In einer Ergänzung von Arrigo Polillos veraltetem Buch Jazz schrieb Hans-Jürgen Schaal, dass an M-Base „irgendwie jedenfalls Doug Hammond beteiligt“ gewesen sei27), was schlicht nicht zutrifft. Auch die weiteren kurzen Ausführungen zu Hammond, M-Base und Coleman sind nicht informativ und zeigen deutlich, dass diese Musik Schaal nicht lag.28)
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