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Steve Coleman Interview, ca. 1995

An Interview Conducted By Vijay Iyer1)
Eigene Übersetzung

 

Interviewer: Welche Ziele hattest Du vor Dir, als Du mit dem M-Base-Kollektiv anfingst, und wie nah bist Du in der Realisierung daran herangekommen?

Steve Coleman: Mein Ziel war und ist, die Beziehung der Menschheit und von mir im Einzelnen zu allem anderen durch Musik (oder eine Art organisierten Sound) auszudrücken. Da ich in diesem Universum nicht alleine lebe, kommt mir vor, dass das am besten durch mehr als eine Person gleichzeitig oder durch Gruppen von Leuten gemacht wird. Ich wollte immer unter anderen kreativen Personen sein, deshalb schließe ich mich mit anderen zusammen. Ob es ein Kollektiv genannt wird oder nicht, ist für mich wirklich nicht der Punkt. Der Punkt ist die Arbeit, die getan werden muss, und dass man versucht, auf diesem Pfad des kreativen Ausdrucks zu bleiben. Ich empfinde es so, dass die wichtige Sache ist, auf diesem Pfad zu sein, und in diesem Sinn wurden die Ziele verwirklicht. In anderen Worten, auf diesem Pfad zu sein, ist selbst der Erfolg.

Interviewer: Wie wurde dieses Kollektiv gebildet? War M-Base hauptsächlich Deine Idee oder hatten andere ähnliche Ziele? Musstest Du oft selbst die Dinge antreiben?

SC: Dass ich mit anderen Leuten zusammenkam, die in der Vergangenheit als Teil des M-Base-Kollektivs betrachtet wurden, kam einfach dadurch zustande, dass ich mich selbst ausdrückte und andere ebenfalls. Ich schloss mich mit jeder einzelnen Person zusammen, aber nach meinem Gefühl war es eine kreative Energie, die uns ursprünglich zusammenbrachte. Diese Energie wirkt, indem sie ähnliche Energie anzieht, sodass ich ihr wirklich nur antwortete.

Den Namen M-Base hab ich geschaffen, aber die Energie war und wird immer da sein. Ich tat nichts anderes als zuzulassen, dass sie durch mich wirkt. Der Name ist unwichtig.

Es ist meine Natur, Dinge voranzutreiben (oder ich sollte sagen, dass das die Natur der Energie ist, die durch mich hindurch wirkt). Deshalb hätte ich das mit oder ohne Kollektiv gemacht. Tatsächlich hab ich das auch damals gemacht, als keine anderen Leute da waren, mit denen ich arbeiten konnte.

Interviewer: Hast Du das Gefühl, dass M-Base heute noch ein echtes „Kollektiv“ ist? Welche Probleme siehst Du heute bei der Idee eines Musik-Kollektivs?

SC: Ich werde immer mit Leuten arbeiten und da ich den geistigen Rahmen, in dem wir (ich und die Leute, mit denen ich arbeite) im Allgemeinen sind, „M-Base“ nenne (nicht die Musik selbst!), kann man vielleicht sagen, dass M-Base ein Kollektiv ist. Aber wenn ich den Begriff „Kollektiv“ verwende, dann in Wahrheit nicht im gleichen Sinne, wie Du ihn zu verstehen scheinst. Für mich ist das M-Base-Kollektiv die Gruppe von Leuten, die sich an einer gewissen Art des Denkens über das Gestalten dieser Musik beteiligen. Es ist nicht eine Gruppe von Leuten, die einen bestimmten Musik-Stil machen. So ist für mich Muhal Richard Abrams Teil des M-Base-Kollektivs, auch wenn er das nicht so sagen würde. Ich denke, dass die Kollektive, über die die meisten Leute reden, in diesem Land heute nicht sehr lange dauern – aufgrund der westlichen Mentalität und des kommerziellen Druckes. Aber das berührt nicht die Art von Kollektiv, die ich oben erwähnt habe, denn die kreative Energie wird immer einen Weg finden, sich durch Individuen und Gruppen von Individuen hindurch zu manifestieren. Deshalb sind die so genannten „Probleme“ in Wahrheit eine Illusion.

Interviewer: Wie haben Dich die früheren afro-amerikanischen Musik-Kollektive beeinflusst? Wie siehst Du ihre Bedeutung? Du hast zuvor gesagt, dass gemeinschaftlicher Zugang zum Lernen ein grundlegendes nicht-westliches Konzept ist. Kannst Du das erläutern?

SC: Noch einmal, verwenden wir meine Definition von einem Kollektiv? Wenn ja, dann ist die Antwort offensichtlich. Was wir heute machen, wäre nicht möglich ohne das Werk anderer, die sich in der Vergangenheit zusammentaten und kreierten. Von diesem Standpunkt aus sind daher der Einfluss und die Bedeutung unermesslich.
Durch das Lernen mit anderen kannst du vom kreativen Geist anderer (jeder bringt unterschiedliche Erfahrungen und Einsichten mit) sofortiges Feedback WÄHREND des Lern-Prozesses erhalten. Das ermöglicht eine Art von gemeinsamer Erfahrung, auf die man sich stützen kann, wenn man Informationen zum ersten Mal in sich aufnimmt. Individuelles Lernen hat nicht diesen Vorteil (auch wenn es wiederum seinen eigenen Vorteil hat. Auf einer individuellen Ebene kann man aber immer lernen. Man muss sich hinausstrecken und mit anderen interagieren, um gemeinsam zu lernen). Nach meinem Eindruck wird gemeinsames Lernen im Westen nicht betont. In einer kreativen Gruppe Musik zu spielen, ist gemeinsames Lernen, wie etwa das Spielen in einer gewissen Art von Big-Band. Ich meine jetzt aber gemeinsames Lernen in dem mehr allgemeinen und traditionellen Konzept des Studierens und Konzeptualisierens gemeinsam mit anderen.

Interviewer: Zu Deinen neueren Projekten wie die Mystic Rhythm Society, Metrics und die Secret Doctrine, die jüngere Musiker, Rapper und nicht-westliche Musiker in die Runde bringen: Hoffst Du, damit die kollektive Atmosphäre anzureichern und zu fördern? Hast Du das Gefühl, dass die Musiker voneinander lernen?

SC: Sicher lernen die Musiker voneinander. Ich habe mit diesen verschiedenen Gruppen begonnen, um mir Möglichkeiten zu eröffnen, mit anderen in einem kreativen Umfeld zu arbeiten.

Als ich mit Cassandra Wilson, Greg Osby, Geri Allen usw. arbeitete, legten wir Wert darauf, eine Gruppe zu haben, die keinen musikalischen (oder geschäftlichen) Leiter hat. Ich war einer der vorantreibenden Leute in der Gruppe hinsichtlich des Versuches, unsere musikalische Art des Denkens weiterzuentwickeln. Als die Presse begann, über uns als Gruppe zu schreiben, beschloss die Presse, ein Gruppenmitglied zum Leiter zu machen. In jedem Interview, das ich jemals gab, und auch wenn ich sonst mit jemandem darüber sprach, habe ich immer Wert darauf gelegt, ihnen zu sagen, dass ich nicht der Leiter von M-Base bin und dass es keinen Leiter gibt. Das machte aber für westlich denkende Journalisten keinen Unterschied und sie beharrten darauf, dass es einen Leiter gäbe, und es wurde üblicherweise geschrieben, dass ich M-Base gegründet hätte (oder der Leiter wäre).

Das führte zu Problemen, als andere von Leuten außerhalb dieses Prozesses (Kritikern, Schreibern, Leuten von CD-Firmen) als jemand angesehen werden wollten, der mehr Dinge mit Leiterfunktion macht – sie wollten als Leiter angesehen werden. Letzten Endes kamen die Egos ins Spiel und das ist einer der Gründe, warum diese spezielle Gruppe von Leuten heute nicht mehr so viel zusammenarbeitet. Jeder wollte als ein Leiter angesehen werden und infolgedessen haben alle diese Leute (und auch einige andere) heute ihre eigenen Gruppen. Die Art der heutigen Musik-Industrie ist so, dass die einzelnen Musiker sofort danach trachten, ihre eigenen Gruppen zu bilden und ihre eigenen Platten-Verträge zu bekommen, noch bevor sie wirklich Erfahrung in der Praxis haben. Das ist weitgehend auf den kommerziellen Druck der Musik-Industrie (und des Westens im Allgemeinen) zurückzuführen. Viele Musiker weichen von ihrem ursprünglichen Anliegen des Musik-Gestaltens wegen des kommerziellen Druckes ab.

In Verbindung mit der Art der westlichen Ausbildungs-Institutionen, die Pädagogik mehr betonen als Kreativität, Geist und Kultur, ist das einer der Gründe dafür, warum so viele Musiker (die sich selbst als Musiker sehen, die „Jazz“-Musik spielen) nicht wirklich einen persönlichen (oder individuellen) Sound in ihrer Musik haben.

Deshalb habe ich mich dazu entschieden, einfach selbst die Gruppen zu gründen und sie in einer mehr offenkundigen Weise zu leiten (geschäftlich wie musikalisch), damit es keine Diskussion und somit auch keine Ego-Kämpfe gibt. Ich denke, das funktioniert in dieser Kultur besser, auch wenn ich wünschte, dass es anders wäre. Denn ich habe eine Menge Sachen zu tun, die wirklich nichts mit dem Musik-Gestalten zu tun haben, bloß damit die Musik überhaupt stattfindet. Weil ich mich selbst Leiter nenne, gibt es die Gruppe „Five Elements“ seit ungefähr 1980. Sie zerbricht nicht, bis ich sie selbst zerbreche, bis ich sie beende. Und ich sehe keinen Grund dafür, das zu tun. Wenn ich andererseits die Gruppe „The Mystic Rhythm Society“ (statt „Steve Coleman and The Mystic Rhythm Society“) gegründet hätte, hätte man die Art von Situation, die bei „Weather Report“ oder „The Jackson Five“ bestand, wo jedes offensiv abweichende Mitglied der Gruppe die ganze Sache zerbrechen kann – wegen der Art, wie diese Gesellschaft ist. Wenn so etwas geschieht, dann springt die Presse natürlich auf und verkündet den „Tod“ der Sache. Ich habe viele Artikel gesehen, die verkündet haben, dass M-Base tot ist, aber diese Schreiber verstehen nicht das Wesen dessen, worüber sie reden. M-Base ist nur ein Name und Namen sterben in gewisser Weise. Was M-Base aber darstellt, wird nie sterben, es wird in der Zukunft nur anders genannt werden, genauso wie es in der Vergangenheit mit anderen Namen bezeichnet wurde.

Mystic, Metrics, Elements und Secret Doctrine sind einfach Gruppen, die gebildet wurden, um verschiedene Elemente oder Perspektiven desselben M-Base-Konzeptes (oder dieser Geisteshaltung) auszudrücken. Für Dich als erfahrenen Musiker ist es einfach, die Verbindungen zwischen all diesen Gruppen zu sehen. Ich bin nur ein Katalysator und Portal, durch das die Energie (die diese besondere Inkarnation der kreativen Beziehungen zusammenhält) wirkt. Andere Individuen reagieren auf diese Schwingungen aber, indem sie sich diesen kreativen Energien öffnen, und das ist es, was es auf dieser Ebene des Daseins zu einem Kollektiv macht.

 

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  1. Original auf Steve Colemans Internetseite, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/an-interview-conducted-by-vijay-iyer/

 

 

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