Radio / Videos
Verzeichnis aller Artikel

 

Steve Coleman über traditionelles Material


Er habe festgestellt, dass nicht nur er selbst, sondern auch andere Mitglieder seiner Band (Jonathan Finlayson, Miles Okazaki), im Gegensatz zu manchen anderen Gruppen, viel traditionelle Sachen hören. Er meine nicht, dass er und seine Bandmitglieder die Wiederkehr von Don Byas wären, aber sie würden sich eine Menge traditionelles Zeug anhören und das sei Teil ihres Zugangs. Offiziell sei ihr Anliegen jedoch, fortschrittliche Musik zu spielen. Der Erste, der das ansprach, sei Shane Endsley1) gewesen, der der Band vor Jonathan Finlayson angehörte. Endsley habe beobachtet, wie er (Coleman) im Umkleideraum Standards und Transkriptionen von Charlie Parkers Soli spielte und dann auf die Bühne ging und etwas spielte, das keinerlei Bezug dazu zu haben schien. Endsley habe ihn gefragt, was die Funktion des Kennens und Spielens der traditionellen Sachen, der Parker-Transkriptionen und Parker-Stücke, ist. Endsley habe ihn damals noch nicht so gut gekannt und sei tatsächlich überrascht gewesen, dass es nach seinem Eindruck alles traditionelle Sachen waren, auf die er (Coleman) sich beim Üben konzentrierte, und dass er auf der Bühne dann all diese anderen Songs spielte. Endsley habe sich gewundert. Üblicherweise sehe man Musiker das üben, was sie dann in ihrem „Geplapper“ spielen, also „Vor-Geplapper“ [lacht], wobei Endsley nicht das Wort „Geplapper“ verwendet habe. Wenn es ein traditioneller Musiker ist, werde er eben traditionelle Sachen üben und dann auf der Bühne auch traditionelle Sachen spielen.

Er (Coleman) könne zu Endsleys Frage Folgendes sagen: Er strebe immer eine Art von Präzision sowie die Fähigkeit an, innerlich, in seinem Kopf zu hören, was er spielt. All das, worüber er in Workshops spricht, das Singen und so weiter, betreffe das, nämlich die Fähigkeit, präzise zu spielen – so gut man kann, denn es werde immer etwas geben, das jenseits dessen ist, was man hören kann, egal wie gut man ist. Er stelle sich vor, dass es etwas gab, das auch Art Tatum nicht hören konnte. Er (Coleman) könnte es nicht erkennen, aber er denke, dass auch Tatum eine Grenze hatte, wie jeder andere. Tatums Spiel habe sich verändert, nachdem er Charlie Parker hörte. Tatums Grenze habe möglicherweise mehr die Stile und die Konzeption betroffen als die Frage, welche bestimmten Noten man spielen muss und so weiter, also jene Frage, mit der die meisten von ihnen beschäftigt sind.2)

Beim Üben zuhause beginne er üblicherweise mit ziemlich traditionellen Sachen und mische dann andere Sachen hinein. Es sei fast wie eine proportionale Sache, etwa 10% oder 20%, bis sein Üben eine mehr originäre Art von Sachen wird. Er habe das ein wenig von John Coltrane erhalten, denn der habe gesagt, dass er lange spiele und mit Sachen beginne, die er in seinen Fingern hat, also die er kennt. Dann gehe er langsam in einen kreativeren Bereich, in jene Bereiche, in denen er die Sachen tatsächlich hört. Von Freeman habe ihm (Coleman) etwas Ähnliches gesagt: Er übe mit einem Standard, zum Beispiel Body and Soul, sehr lange, etwa drei Stunden lang. Nach einiger Zeit wolle man naturgemäß nicht dieselbe Sache immer wieder spielen. So beginne man, neue Dinge zu finden und sich in das Stück hineinzuarbeiten. Freeman sei echt esoterisch geworden, denn er sagte, man gelange dann, etwa nach einer Stunde, in die Energie des Stückes, in die Schatten, in die Substanz, in Bereiche, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt, und so weiter. Man sei dann in der Lage, Dinge zu spielen, die man zuvor nicht spielen konnte. Aber man müsse sich dafür zunächst gewissermaßen aufwärmen, fast wie es ein Läufer vor dem Rennen macht. Er (Coleman) mache es auf ähnliche Weise.

Nun müsse man wissen, wie man so etwas spielt, um damit zu beginnen. Er wolle keine Namen nennen, aber er kenne gleichaltrige Musiker, die zwar die Stücke spielen, aber nie viel vom Stimmführungszeug lernten, das die Musiker in der Vergangenheit, Don Byas, Charlie Parker, Fats Navarro, machten. Byas, Parker und so weiter hätten in diesem Stil eine gewisse Tiefe erreicht, denn sie seien in dieser Ära und die Besten dieser Ära gewesen, auf einem sehr hohen Niveau. Sie seien sehr gründlich gewesen. Für ihn (Coleman) gehe es dabei nicht um „Bebop“, sondern wie tief sie in diese Songs hineinkamen. Wenn man sich Von Freeman anhört, dann sei das sehr, sehr tief. Er (Coleman) glaube nicht, dass ein heutiger Musiker in der Lage sein kann, so tief hineinzugelangen, es sei denn, er verbringt sein ganzes Leben damit, das zu kopieren, was bedeuten würde, dass er seine Zeit vergeudet. Denn es sei so, wie Max Roach ihm sagte: „Wir machten es bereits.“ Aber gleichzeitig möchte er (Coleman) die Tiefe haben, die sie erreichten. Er wolle dieser Tiefe in seiner eigenen Musik nahekommen. So müsse er das lernen, um Beispiele dafür zu sehen, was diese Tiefe ist. Das sei für ihn einer der wichtigen Teile, denn man könne zwar mit Worten über die Tiefe sprechen, aber Worte würden darüber gar nichts sagen. Wenn man sich jedoch in das vertieft, was etwa Fats Navarro machte, bekomme man eine plastische Version der Tiefe, im Gegensatz zu einer Sprach-Version wie: „Oh, dieser Musiker war tiefgehend.“ Man bekomme eine lebensnahe Version davon, was es ist, aber das brauche Zeit. Es brauche sehr viel Zeit, das zu lernen und in das Konzept von jemand anderem zu gelangen, egal ob es Charlie Christian, Wes Montgomery3) oder wer auch immer ist. Es brauche Zeit, um die tieferen Teile davon zu sehen, nicht bloß irgendein Zeug, das man aus einem Omnibook bezogen hat.

Interviewer (Miles Okazaki): Man müsse auch Gigs4) spielen, bei denen man das macht, nicht bloß zuhause alleine spielen.

Steve Coleman: Ja, natürlich! Er habe zu einer Musikerin gesagt, es gehe nicht bloß darum, sich den Five Elements5) anzuschließen, sondern müsse auch durch eine gewisse Menge des Versuchens, dieses Zeug zu spielen, gehen. Man könne es nicht einfach zuhause machen und dann sagen: Okay, jetzt hab ich’s. Das sei nicht das, was diese Musiker damals machten. Es brauche eine gewisse Menge des tatsächlichen Tuns. Gleichzeitig müsse man erkennen, dass man nicht wirklich diese damalige Ära wiedererschaffen wird. Das wäre eine ähnliche Situation wie in Catch-226). Denn man werde nicht dorthin gelangen, wo die damaligen Musiker hingelangten – im Spielen dieser Sprache, die für sie ihr Leben lang eine kreative Sprache war. Für ihn (Coleman) sei das mehr eine Sache des Lernens und Erforschens, aber er verwende sie ja auch in anderer Weise und das sei hier das Thema. Er verwende sie, um sich hinsichtlich des Detail-Niveaus zu präparieren, damit er dieses Niveau dann auch in dem erreicht, was er selbst macht. Er möchte dasselbe Niveau des Details, dieselbe Fähigkeit, Dinge zu hören, erreichen. Es könne nicht bloß darum gehen, die Licks7) zu hören, die diese Musiker spielten, sondern man müsse tatsächlich in der Lage sein, dieses Material in einer kreativen Weise zu spielen. Das bedeute, in der Lage zu sein, tatsächlich zu hören, was man spielt. Er kenne Leute, die in diesen Stilen spielen, aber bloß die konkreten Licks hören oder Licks, die ähnlich klingen – Licks, Linien, Melodien oder was auch immer. So klingen sie. Im Gegensatz dazu nehme er diese Figuren und sehe sich an, wie sie funktionieren und was genau geschieht.

Steve Coleman spielte eine bestimmte Passage aus einer improvisierten Linie Charlie Parkers vor und erläuterte dazu unter anderem:
Diese melodische Bewegung sei raffiniert. Parker habe sie von zwei-fünf-eins zu fünf-zwei-eins umgedreht und dennoch habe sie wie ein Handschuh gepasst. Als er (Coleman) das transkribierte, habe er sich gedacht: Momentmal, das sollte eigentlich nicht funktionieren. Denn Parker habe sich hier rückwärts bewegt. Da passiere etwas Sonderbares. So habe er (Coleman) viel Zeit damit verbracht, das zu analysieren, denn er wollte wissen, wie es funktioniert, sodass er selbst so etwas machen kann, ohne genau dasselbe zu machen.

Es gebe verschiedene Wege, um zu einem kreativen Ausdruck zu gelangen. Man könne alles aus der Vergangenheit einfach über Bord werfen und sagen, das aus der Vergangenheit sei cool, aber man möchte das nicht machen, sondern etwas anderes8) – wie es Ornette Coleman getan habe9) oder so jemand. Und dann gebe es zum Beispiel John Coltranes Methode, bei der man Schicht um Schicht aufbaut und sich langsam in einen anderen Bereich bewegt. Es sei offensichtlich, dass er (Steve Coleman) Coltranes Methode wählte. Es gehe dabei nicht darum, welche Methode besser ist, sondern mehr darum, welche Persönlichkeit man hat, wozu man neigt, was einen anzieht. Es gebe all die unterschiedlichen Charaktere und das mache die Musik reicher, erweitere die Palette, gebe allen mehr Dinge, die man sich ansehen kann. So könne er mit einem Musiker zwar hinsichtlich allgemeiner Prinzipien nicht übereinstimmen, aber in seinen Sachen durchaus etwas finden, das er verwenden kann. Er habe viel von Henry Threadgill erhalten und sei auch jetzt offen, Sachen von ihm zu erhalten, auch von Tyshawn Sorey, obwohl sie nicht dieselbe Neigung haben.10)

Die melodische Bewegung Charlie Parkers, die er (Coleman) soeben vorspielte und die Parker häufig verwendete, sei eine der ersten Dinge gewesen, die er (Coleman) hinsichtlich des Progressionszeugs lernte. Er habe Parker das machen gehört und sich gefragt, was das ist. Dizzy Gillespie habe das auch gemacht. Es habe einige Zeit gebraucht, bis er es herausfand. Herauszufinden, was es in Bezug auf die Akkorde ist, sei eine Sache. Der verzwickte Teil der Sache sei aber, was sie melodisch machten, damit es so klingt.

Interviewer (Miles Okazaki): Er habe das zum ersten Mal in If You Could See Me Now gehört und habe es hip gefunden. Damals habe er noch keine Ahnung von Theorie gehabt. Die Akkorde würden sich anfühlen, als gingen sie hinunter, die Melodie hingegen gehe hinauf.

Steve Coleman: Ja, das sei eine dieser Kontrapunkt-Sachen mit dem Bass, über die Von Freeman sprach, wo die Dinge auseinanderlaufen. Es sei wirklich raffiniert, denn es bewirke einen Farbenwechsel. Er habe sich gefragt, wie er so etwas auf andere Weise machen kann. Er habe an solchen Sachen gearbeitet und versucht zu sehen, welche verschiedenen Arten der Stimmführung er dadurch erhalten kann, ohne Klischees zu spielen, ohne dieselben Sachen zu spielen wie die damaligen Musiker. Man finde verschiedene Formen und das könne einen zu anderen Orten führen. Er habe dabei auch eine Menge Goldener-Schnitt-Sachen gemacht. So habe er Sachen gefunden, die mehr mit jener Art von Formen zu tun hatten, die er selbst spielen wollte. Und wenn man Sachen wie Harmattan und Acupuncture11) betrachtet, dann sehe man dieses Zeug darin. Denn was er macht, sei, dieses Zeug aus dem Kontext der Tin-Pan-Alley-Stücke, des American-Songbooks oder wie immer man es nennen möchte, herauszunehmen und in einen anderen Kontext hineinzugeben. Aber es blieben dieselben Figuren. Das sei etwas, das er von Coltrane aufgegriffen habe. Coltrane habe den Kontext verändert, in dem seine Figuren gespielt wurden, und so hätten sie anders geklungen. Er (Coleman) habe sich einmal mit Ravi Coltrane eine Aufnahme von John Coltrane angehört und darauf hingewiesen, dass Coltrane hier einen Lick von Charlie Parker spielte, der aber in diesem Kontext nicht wie ein Parker-Lick klang. Coltrane habe einen anderen Kontext und Vibe geschaffen. Die normalen Leute im Publikum würden große Gesten hören, keine Details. Sie würden die Gesten, den Vibe der gesamten Band und die Art, wie sie klingt, hören. Sie würden nichts von dem Tonhöhenzeug hören, über das sie gerade sprechen. Coltrane habe den Kontext verändert, die Unterlage, wie Milford Graves sage, das Substrat. Und in diesem Kontext klinge alles anders. Auch Von Freeman habe so etwas manchmal gemacht. Freeman sei dabei in ein abgefahrenes Vibe-Zeug hinausgegangen und in diesem Kontext habe er gewöhnliche Tonleitern gespielt, die nun aber anders klangen, aufgrund der veränderten Umgebung. Er (Coleman) habe festgestellt, dass es letztlich nicht gar so viele Rhythmen und nicht gar so viele Formen melodischer Keime gibt. Kontexte scheine es jedoch in unbegrenzter Zahl zu geben [lacht]. Wenn man eine Sprache aufbauen konnte, mit der man die Beziehungen hochschaltet, dann könne man weiterhin eine Menge Sachen spielen, die man zuvor in einem anderen Kontext spielte, ohne dass sie genauso klingen.

Er spiele manchmal ein kleines Spiel mit sich selbst, indem er sich ansehe, wie viel (mangels eines besseren Wortes) „traditionelles“ Zeug er in einem nicht-traditionellen Kontext spielen kann, und umgekehrt, wie viel nicht-traditionelles Zeug er in einem traditionellen Kontext spielen kann. Er frage sich zum Beispiel, ob er durch Rhythm-Changes12) gehen kann, ohne irgendein Klischee zu spielen, nichts, was nach Don Byas, Charlie Parker und all diesen Musikern klingt. Und andererseits arbeite er mit seinen Sachen, von denen einige an sich nicht einmal in Dur oder Moll sind, steifes Zeug wie Nine to Five oder Pi, die andere Dinge haben. Bei diesen Traditionell/nicht-traditionell-Spielen lasse er den Rhythmus nicht aus. Manchmal spiele er sogar in fast ausschließlich rhythmischer Weise, was allerdings nicht bedeute, dass er die Tonhöhe ignorieren würde. Er ignoriere sie nie, was manche Musiker täten, die sie beim Fenster hinauswerfen. Aber manchmal, wenn er den Vibe und alles bildet, sei der rhythmische Teil dominanter. Tonhöhen würden offensichtlich den Rhythmus steigern können wie auch Rhythmen die Tonhöhen steigern können. In den Fällen, in denen die Rhythmussache im Vordergrund ist, hätten die Tonhöhen zwar weiterhin ihre Stimmführungsfunktion und so weiter, aber vor allem auch die Aufgabe, gewisse Rhythmen zu bilden. Es sei fast wie das, was ein Schlagzeuger macht, denn der habe ja auch Tonhöhen. Leute würden das oft vergessen. Ein Schlagzeuger habe hoch und tief und so weiter. Er (Coleman) könne durch Rhythm-Changes gehen und gleichzeitig die Rhythmussache machen. Er werde das nun demonstrieren.

Nach dem Vorspielen, sagte er dazu: Er habe rhythmisch gedacht, aber der Tonhöhen-Reim sei ebenfalls vorhanden gewesen. Er sei nur nicht gedanklich im Vordergrund gestanden und habe dem Rhythmus gedient. Er spiele eben schon so lange, dass die Tonhöhen-Sache automatisch hineinkäme. Das Üben, die Dinge zu hören, und so weiter käme da ins Spiel. Wenn man das macht, gelange man zu Sachen, die man Parker und all diese Musiker nie machen gehört hat. Dann passiere es, dass man selber eine Sache zum ersten Mal spielt.13)

 

Zurück zu Steve Coleman

Verzeichnis aller Artikel

 

——————————————————

Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Trompeter
  2. QUELLE des bisherigen Textes: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 31: In the Tradition, Audio im Abschnitt 0:00:29 bis 0:04:06 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2016, Internet-Adresse: http://m-base.net/
  3. Coleman nannte diese beiden Gitarristen offenbar deshalb als Beispiele, weil der Interviewer, Miles Okazaki, Gitarrist ist.
  4. Auftritte
  5. Colemans Band
  6. einem verfilmten Roman über die „Absurdität des Krieges und die Dummheit der Militär-Maschinerie“ (Wikipedia)
  7. eingeübten Phrasen
  8. „something else“
  9. Ornette Colemans erstes Album hieß Something Else!!!!
  10. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 31: In the Tradition, Audio im Abschnitt 0:06:43 bis 0:17:11 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2016, Internet-Adresse: http://m-base.net/
  11. wohl Acupuncture Openings, beides Stücke seines Albums Synovial Joints (2014)
  12. Akkordwechsel, die auf den Song I Got Rhythm zurückgehen und in Charlie Parkers Zeit für viele Jazz-Stücke verwendet wurden
  13. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 31: In the Tradition, Audio im Abschnitt 0:20:29 Stunden/Minuten/Sekunden bis Ende, veröffentlicht 2016, Internet-Adresse: http://m-base.net/

 

 

Kontakt / Offenlegung