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Lockere Brillanz


Der sehr erfolgreiche, als „King of Swing“ betitelte, „weiße“ Bigbandleiter Benny Goodman erklärte im Jahr 1939: „Ich bin ein absoluter Pedant, wenn es um musikalische Genauigkeit geht. Ich lege Wert auf absolute Tonreinheit und verlange, dass die in der Stimme angegebenen Notenwerte gewissenhaft eingehalten werden. Das Ganze muss so exakt wie nur möglich klingen.“1) Diese Aussage spiegelt einen zentralen Wert der „klassischen“ Konzertmusik und eine grundsätzliche Werthaltung europäischer Bildung wider. – Der Posaunist Dicky Wells, der Mitglied der afro-amerikanischen Count-Basie-Bigband war, gab hingegen zu bedenken: „Wenn man zu sauber und zu präzise wird, dann swingt man manchmal nicht mehr, und der Spaß geht aus der Musik verloren.“2) In der afro-amerikanischen Tradition ist der Ausdruck vorrangig und es wird ein anderes Lebensgefühl vermittelt. Hinsichtlich Exaktheit und Reinheit besteht eine größere Bandbreite, die nicht bloß Abweichungen tolerabel macht, sondern auch durch feine Variationen zu einem subtilen Ausdruck genutzt wird.

Steve Coleman erläuterte: „Hör Dir Charlie Parker an: Es ist nicht perfekt. Es gibt da immer noch die menschliche Sache. Von Freeman sagte mir einmal: Stimm‘ nicht zu viel, Baby – du wirst deine Seele verlieren!3) Der Tenor-Saxofonist Von Freeman (geboren 1923) entwickelte sein von Charlie Parker hergeleitetes Spiel stets weiter, gelangte dabei „tiefer und tiefer“ und wurde zu einem „Meister der Stimmführung über Akkordwechsel“4). Er fand jedoch aufgrund seiner Weigerung, Chicago zu verlassen,5) und auch wegen seines eigenwilligen Sounds erst ab dem Alter von 73 Jahren in größerem Rahmen Anerkennung6). Rückblickend erzählte er: „Was ich zu machen versuchte, war, etwas zu spielen, das ein bisschen anspruchsvoller ist als das, was sonst alle spielen. Ich habe das immer versucht, egal was andere sagten, und Leute kritisierten mich. Sie sagten, ich spiele verstimmt, spiele eine Menge falscher Noten, eine Menge sonderbarer Ideen. Aber das war egal, denn ich brauchte mir um das Geld keine Sorgen zu machen – ich verdiente kaum eines. Ich brauchte mir keine Sorgen um Ruhm zu machen – ich hatte keinen. Ich war frei.“7) Ein Jazz-Kritiker meinte dazu: „Nicht an einen Stil allein oder an ein einzelnes Publikum gebunden, entwickelte er eine Sprache, die kunstvolles Balladen-Spiel der 1930er Jahre, knallharten Bop der 1950er Jahre und chromatisch-dissonante Erkundungen der Avantgarde verschmilzt. Es ist ein aufwühlender, technisch komplexer Sound wie der keines anderen.“8) Und Freeman sagte: „Im Grunde genommen muss man beten und heulen und leiden, um zu versuchen, diese Ideen zu finden, denn sie sind verborgen. Sie sind im Schatten, im Wind, im Lufthauch, in der Natur. Und sie sind in jedem drinnen. Die Kunst ist, sie herauszubringen.“9)

Zu Freemans Aufforderung, nicht zu viel zu stimmen, erzählte Steve Coleman (geboren 1956), dass er damals als junger Musiker von Freeman zum Mitspielen eingeladen wurde und den Pianisten John Young, der mit Freeman aufgewachsen war, bat, am Klavier den A-Ton anzuschlagen, um sein Saxofon zu stimmen. Nachdem sein Stimmen bereits eine ganze Weile andauerte, habe Freeman zu ihm gesagt: „Stimm‘ nicht zu viel, Baby – Du wirst Deine Seele verlieren!“ Coleman verstand nicht, was Freeman damit meinte, denn wenige Jahre zuvor hatte er noch im Musikunterricht der High-School gelernt, dass man vor dem Spielen sein Instrument immer möglichst genau stimmen soll. Später fiel ihm dann auf, dass er ältere afro-amerikanische Musiker wie Von Freeman und Sonny Stitt nie stimmen sah, sie also die Tonhöhe ihres Instruments einfach während des Spielens anpassten. Er erklärte: „Für Blasinstrumente gibt es nicht so etwas wie, in perfekter Stimmung zu sein. Man zentriert das Instrument in einer bestimmten Tonhöhenzone oder einem Fenster, abhängig von seiner Technik, seinem Ansatz und so weiter und von da aus muss man dann in der Stimmung spielen. Im Gegensatz zur klassischen europäischen Kunstmusik gibt es in der Tradition, die ich lernte, eine Menge Tonhöhen-Manipulation, Biegen von Tönen, Verwenden unterschiedlicher Klangfarben und so weiter, sodass das Tonhöhen-Konzept sehr formbar ist.“ Viel von dieser Variabilität werde in seiner Musikkultur als Ausdruck von Seele (Soul) wahrgenommen. Freeman habe ihm zu vermitteln versucht, dass man davon nicht zu weit weggeraten soll, da diese Ästhetik ein wesentlicher Teil ihrer Musik ist. Er (Coleman) sei damals noch zu jung und unerfahren gewesen, um Freemans Hinweis zu verstehen. Ältere Musiker wie Freeman hätten in dieser Art gelehrt, meistens mit solchen „kurzen, witzigen, parabelartigen Aussagen, die einem wie Samen in den Kopf gepflanzt werden, und dann wächst über die Jahre das Verständnis“.10)

Wie Steve Coleman erwähnte, wird für den vielfältigen Ausdruck dieser Musikkultur nicht nur die Tonhöhe variiert, sondern auch eine breite Palette von Klangfarben eingesetzt. Abweichungen in der Tonhöhe und expressive Klangfarben scheinen dabei im Höreindruck nicht immer klar voneinander unterscheidbar zu sein.11) Eine weitere wichtige Komponente der speziellen Ausdruckskraft dieser Musiker bildet die Rhythmik ihrer Phrasierung und in dieser Hinsicht wird ebenfalls ein größerer Spielraum in Anspruch genommen12) sowie auf Lockerheit Wert gelegt.13) Auch in harmonischer Hinsicht ist das Spiel der alten Meister großteils offen, vieldeutig und abweichend. Die gesamte Spielweise von Musikern wie Parker wirkt aus der Perspektive von Musikschulen rau, nicht exakt, unebenmäßig und damit nur beschränkt professionell. Aber gerade diese ungeglättete, legere, mit dem Blues verwandte Ästhetik bildet einen speziellen Reiz dieser Musik und es wäre völlig verfehlt, sie als grob und primitiv anzusehen. Vielmehr enthält sie einen besonders großen Reichtum an Details und subtilem Ausdruck.14)

In den als Bebop-Stil bezeichneten Nachahmungen der Spielweisen von Musikern wie Parker und Bud Powell erfolgte eine entscheidende Glättung und Vereinfachung. Andere stilistische Richtungen betonten stark den rauen, unverbildeten Zugang und warfen dabei jede Raffinesse über Bord. So mangelte es im so genannten Free-Jazz vielen Spielern in erheblichem Maß an musikalischen Kenntnissen und technischen Fähigkeiten. Oft konnten sie bestenfalls mit kraftvollen klanglichen Effekten und dramatischem Einsatz einen Beitrag leisten. Der war allerdings immerhin lebendiger und persönlicher als die Musik jener Masse später aufgetretener Musiker, die ab den 1970er Jahren in den nunmehr entstandenen zahlreichen Jazz-Schulen ausgebildet wurden, virtuos „sauber“ spielten und fabriziert klangen, wenn sie Emotionen zeigen oder urwüchsig wirken wollten.15)

Mit einer „volkstümlichen“, autodidaktisch erarbeiteten und von den Qualitäten afro-amerikanischer Subkultur geprägten Herangehensweise große Meisterschaft zu entwickeln, scheint nur sehr wenigen zu gelingen.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Ben Sidran, Black Talk, 1993, S. 104, Quellenangabe: Goodman/Kolodin, The Kingdom of Swing, 1939, S. 241
  2. QUELLE: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 98
  3. QUELLE: Ben Ratliff, A Jazz Guerrilla Blows Back In, Spreading Ideas, 18. August 2002, Internetseite der Zeitung The New York Times, Internet-Adresse: http://www.nytimes.com/2002/08/18/arts/music-a-jazz-guerrilla-blows-back-in-spreading-ideas.html?pagewanted=all&src=pm
  4. QUELLE: Steve Coleman im DVD-Dokumentarfilm Elements of One (aufgenommen 1996 bis 2002) von Eve-Marie Breglia, CHOD Productions – Steve Coleman: Er habe Von Freeman gehört, als Freeman in der Mitte seiner 50er Jahre war und Freeman habe so geklungen, als sei er auf seinem Gipfel [Alben aus dieser Zeit: Serenade and Blues (1975), Young and Foolish (1977)]. Er habe damals am besten geklungen. Er habe einigermaßen auf sich geschaut und sei mörderisch gewesen. (QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 25: Astronomy I – Cycles and Geometry, Audio im Abschnitt 1:28:15 bis 1:29:28 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2016, Internet-Adresse: http://m-base.net/)
  5. In den 1950er Jahren lud ihn sogar Miles Davis telefonisch ein, in seiner Band John Coltranes Platz zu übernehmen. Freemans Mutter war am Telefon, erklärte, dass er vier Kinder und eine Frau hat, Miles Davis verstand und Von Freeman rief nie zurück. Freeman meinte rückblickend, das wäre wahrscheinlich sein großer Durchbruch gewesen, aber er habe es eben verpasst, was ihn allerdings nie geplagt habe. (QUELLE: Howard Reich, Von Freeman, Chicago jazz legend, dead at 88, 13. August 2012, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://www.chicagotribune.com/entertainment/music/chi-von-freeman-dies-chicago-jazz-music-20120813,0,4655061,full.column)
  6. Während des Chicago Jazz Festivals 1997 fand im Grant Park von Chicago eine Feier zu seinem 75. Geburtstag statt, er war allerdings erst 73. Vier Jahre später wurde er in einer Titelgeschichte der auflagenstarken Jazz-Zeitschrift DownBeat (John Corbett, A Cause Without Glory,März 2001, Internet-Adresse: http://business.highbeam.com/136968/article-1G1-71317610/cause-without-glory) als „einer der größten Tenor-Saxofonisten des modernen Jazz“ vorgestellt. Zu seinem 80. Geburtstag wurde im Symphony Center von Chicago eine Feier veranstaltet, bei der er dem Publikum mitteilte: „Ich fühle mich wie ein König.“ (QUELLE: Howard Reich, Von Freeman, Chicago jazz legend, dead at 88, 13. August 2012, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://www.chicagotribune.com/entertainment/music/chi-von-freeman-dies-chicago-jazz-music-20120813,0,4655061,full.column)
  7. QUELLE: Howard Reich, Von Freeman Is Chicago Jazz History, 20. September 1992, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://articles.chicagotribune.com/1992-09-20/entertainment/9203250723_1_jazz-masters-award-tenor-dances/2, eigene Übersetzung – Freeman hatte zumindest ab den 1970er Jahren dann durchaus ein, wenn auch kleines Publikum und treue Anhänger. Er sagte 1976: „Natürlich kommen zu mir schon eine ganze Menge Leute zum Zuhören. Und ich bin ziemlich kompromisslos, ich spiele einfach. Und ich versuche nicht, irgendjemandem zu gefallen. Und das bringt es natürlich mit sich, dass ich nur bis zu einem gewissen Grad kommerziell erfolgreich sein kann. Denn ich spiele einfach.“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 217)
  8. QUELLE: Howard Reich, Von Freeman Is Chicago Jazz History, 20. September 1992, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://articles.chicagotribune.com/1992-09-20/entertainment/9203250723_1_jazz-masters-award-tenor-dances/2, eigene Übersetzung
  9. QUELLE: Howard Reich, Von Freeman Is Chicago Jazz History, 20. September 1992, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://articles.chicagotribune.com/1992-09-20/entertainment/9203250723_1_jazz-masters-award-tenor-dances/2, eigene Übersetzung – Joe Segal, der im Jahr 1947 in Chicago den Jazz-Club The Jazz Showcase gründete, ihn bis ins 21. Jahrhundert leitete und in den 1950er Jahren auch Freeman präsentierte, erzählte, dass Freeman damals so hart spielte und dabei das Mundstück so hart biss, dass es einmal einfach abbrach. (QUELLE: Howard Reich, Von Freeman, Chicago jazz legend, dead at 88, 13. August 2012, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse:http://www.chicagotribune.com/entertainment/music/chi-von-freeman-dies-chicago-jazz-music-20120813,0,4655061,full.column)
  10. Steve Colemans gesamte Erläuterung: Link
  11. Ornette Coleman wurde anfangs von Musikern vorgeworfen, er würde falsch intonieren (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/1975, S. 64), und der Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt behauptete sogar, dass „fast jeder seiner Töne […] nach oben oder unten verschoben“ und damit „vokalisiert im Sinne des Blues“ sei (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 167). Ekkehard Jost stellte durch Frequenzmessungen zwar tatsächlich häufige Abweichungen von der europäischen Standard-Stimmung fest, diese seien jedoch überwiegend in einem Bereich gelegen, den man üblicherweise auch Opernsängern und Geigen-Virtuosen zugesteht. Das gelte selbst für Töne, bei denen man nach dem Höreindruck eine größere Abweichung vermutet hätte. Dieser Eindruck käme also lediglich durch die expressive Veränderung des Klangs zustande. Berendt habe die Aussage Colemans missverstanden, nach der „ein f in einem Lied […], das peaceFrieden heißt, […] nicht genauso klingen sollte wie die gleiche Note in einem Stück, das sadnessTraurigkeit betitelt ist“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 164). Wenn Ornette Coleman von einer „menschlichen Qualität“ seiner Intonationsweise, von „menschlicher Tonhöhe“ und von Vokalisierung sprach, dann ist nach Jost nicht eine Veränderung der Tonhöhe, sondern der Klangfarbe gemeint. Allerdings habe Ornette Coleman in seinen frühen Aufnahmen, besonders bei schnellen Läufen, tatsächlich häufig unkorrekt gespielt. Dass diese verwischte, nicht ganz gelungene Intonation nicht gewollt war, ergebe sich aus ihrem Verschwinden nach häufigen Auftritten Ornette Colemans im Jahr 1961. (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/ursprünglich 1975, S. 64f.) – Steve Colemans Aussagen und Von Freemans Aufforderung, nicht zu viel zu stimmen, zeigen jedoch wiederum, dass auch andere Jazz-Musiker sehr wohl auf eine ausdrucksvolle, „menschliche“ Variation der Tonhöhe Wert legten, sodass Ornette Colemans Wortwahl („menschliche Tonhöhe“ und so weiter) wohl durchaus wörtlich genommen werden kann.
  12. Zum Beispiel Henry Threadgill über Unterschiede im Rhythmus-Verständnis zwischen Jazz-Musikern und „klassischen“ Musikern: „Wir spielen die Musik nicht mit dem Maß-Beat, den sie spielen. Unser Beat hat eine Weite. Sie spielen genau in der Mitte des Beats. Ihr Beat ist so dünn, er ist wie ein Tick, Tick, Tick. Als ich das Sextett hatte, setzte ich immer zwei Schlagzeuger ein. Ich hatte immer einen Schlagzeuger, der diesen weit zurückliegenden Beat spielte, und einen anderen, der fast vor dem Beat spielte. Dadurch ist der Beat so weit. So kann man ganz unterschiedliche Information hineinlegen. Man hat eine Menge Raum, um Information hineinzulegen, und dieselbe Sache läuft in der Latin-Musik ab.“ (QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Henry Threadgill. part 1, 16. Mai 2011, Iversons Internetseite DO THE MATH, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-henry-threadgill-1-.html)
  13. Mehr dazu an folgender Stelle des Artikels Timing: Link
  14. Mehr dazu im Artikel Steve Coleman über den „Anfänger-Profi-Sound“: Link
  15. Mehr dazu im Artikel Steve Coleman über den „Anfänger-Profi-Sound“: Link

 

 

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