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John Coltrane wurde im September 1926 geboren und wuchs in einer Kleinstadt (High Point) in North Carolina auf, einem ehemaligen Sklavenhalterstaat mit Rassentrennung. Seine beiden Großväter waren methodistische Priester und das Familienleben war stark von der Religion geprägt. Coltranes Vater war selbständiger Schneider und spielte in der Freizeit zuhause viel auf der Geige und der Gitarre. Coltranes Mutter war fromm, hatte ein College besucht, konnte Klavierspielen und Singen und wäre gerne Opernsängerin geworden. Coltrane hatte keine Geschwister, aber eine Kusine im Haus, die wie eine Schwester war (er nannte später ein Stück Cousin Mary nach ihr). Um 1939, als er 12 Jahre alt war, begann er Klarinette zu spielen, um sich an einem Schulorchester zu beteiligen, und kurz darauf wechselte er zum Alt-Saxofon über. Nur wenige Monate später starben sein Vater (an Magenkrebs) und mehrere weitere nahe Verwandte, sodass die Großfamilie zerbrach, der bescheidene Wohlstand endete, seine Mutter als Hausangestellte arbeiten gehen musste und Coltrane Arbeiten wie Schuhputzen annehmen musste. Er zog sich aufgrund des hereingebrochenen Unglücks zurück, seine Schulleistungen verschlechterten sich rasch und er übte sehr viel auf seinem Musikinstrument, sodass der Eindruck entstand, dass er darin seinen einzigen Halt fand.1) Später sagte seine zweite Ehefrau, die wie seine Mutter Alice hieß: Da Coltranes Vater so früh verstorben war, sei seine Erziehung sehr stark von der Mutter beeinflusst worden. Er habe ein enges Verhältnis zu ihr gehabt. Sie sei tief religiös gewesen und habe daher versucht, ihm geistig-religiöse Prinzipien zu vermitteln. Das habe er an ihr geschätzt. Die Werte, die ihm seine Mutter vermittelte, seien zur Richtschnur für sein ganzes Leben geworden.2) – Die Aussagen der Religion begann Coltrane gegen Ende seines Teenager-Alters in Frage zu stellen und als ein paar Jahre später viele seiner Kollegen zum Islam konvertierten und er erkannte, wie viele Religionen es gibt und wie sie einander widersprechen, da konnte er nicht glauben, dass eine Recht haben sollte und die anderen nicht, und war verwirrt. Aber er setzte sich für einige Jahre mit diesen Fragen nicht weiter auseinander.3) Die grundsätzliche Geisteshaltung, die er in seiner Kindheit und Jugend vermittelt bekommen hatte, sowie die durch Religionsausübung gemachten Erfahrungen wirkten jedoch weiter.
Seit dem Tod seines Vaters neigte Coltrane zu exzessiven Verhaltensweisen, offenbar um mit dem Unglück zurechtzukommen, aber wohl auch um seinen hohen Ansprüchen an sich selbst gerecht zu werden4) und schließlich auch um die negativen Folgen dieser Verhaltensweisen durch weitere auszugleichen. Er rauchte, trank erhebliche Mengen Alkohol und als er aufgrund seiner Vorliebe für Süßigkeiten Zahnprobleme bekam, trank er noch mehr, um seine Beschwerden zu lindern. Um 1948 begann er als ungefähr 22-Jähriger Heroin zu nehmen, was ihm auch half, während seines endlosen Übens die Konzentration aufrechtzuerhalten. Später versuchte er mehrmals, vom Heroin wieder loszukommen, und behalf sich dabei mit Alkohol, sodass sich ein Kreislauf aus Heroin- und Alkoholkonsum ergab, der zunehmend seine Kreativität und Gesundheit untergrub.5) Im Jahr 1957 unternahm er auf eigene Faust, jedoch mit Unterstützung durch seine Familie und Freunde6), insbesondere durch seine erste Ehefrau Naima7), einen radikalen, erfolgreichen Entzug. Er befreite sich sowohl vom Heroin- als auch vom Alkoholkonsum, blieb allerdings für den Rest seines Lebens Raucher, nicht zuletzt, weil er damit seine Neigung zu übermäßigem Essen eher im Zaum halten konnte8). Die Überwindung der Drogenabhängigkeit war mit einer Wiederbelebung seiner Religiosität verbunden. Rückblickend erklärte er 1964: „Während des Jahres 1957 erlebte ich durch die Gnade Gottes ein spirituelles Erwachen, das mir den Weg eröffnete zu einem reicheren, erfüllteren, produktiveren Leben. Aus Dankbarkeit bat ich damals in aller Bescheidenheit darum, die Mittel und die Gelegenheit zu bekommen, andere durch Musik glücklich zu machen.“9) Im Jahr 1965 sagte Coltrane in einem Interview: „Vor ein paar Jahren habe ich meinen Glauben wiedergefunden. Schon früher hatte ich diesen Glauben [zeitweise] verloren und dann wiedergefunden. Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, so trug ich die Saat dazu in mir, und zu bestimmten Zeiten finde ich meinen Glauben wieder.“10) Die konkreten Welterklärungen und Geschichten der Religionen mit ihrem Wahrheitsanspruch, an denen er in jungen Jahren zu zweifeln begonnen hatte, scheinen nun für ihn weniger Gewicht gehabt zu haben. So sagte er ungefähr ein Jahr vor seinem Tod (1967): „Ich glaube an alle Religionen“.11) Mit der Befreiung von seiner Neigung zu Drogen und dem Wiederaufflammen der Religiosität ging auch ein mehr denn je obsessives Üben und Experimentieren auf dem Saxofon einher. Seine Frau Naima berichtete, er habe manchmal 24 Stunden lang an seiner Musik gearbeitet, bis er mit seinem Instrument in der Hand erschöpft einschlief, er sei „zu neunzig Prozent Saxofon“ gewesen.12)
Folgende Aussagen legen nahe, dass Coltrane nicht nur in seiner geistigen Orientierung einer Tradition afro-amerikanischer Religiosität folgte, sondern auch von der Musik solcher Traditionen beeinflusst wurde:
McCoy Tyner (Pianist in Coltranes Band von 1960 bis 1965) über Coltrane: „Sein Großvater war ein Pfarrer, ein Baptisten-Pfarrer [tatsächlich ein Methodisten-Pfarrer, woraus sich ein erheblichen Unterschied in der Art des Gottesdienstes ergeben kann], irgendwo im Süden. Er ist in einer religiösen Familie groß geworden. Er hatte immer erzählt, dass er als Kind jeden Sonntag in die Kirche gehen musste. Seine Mutter legte darauf sehr viel Wert. Die Religion hatte großen Einfluss auf seine persönliche Entwicklung. – Die Spirituals waren damals von großer Bedeutung. Als ich in der Junior-High-School [in Philadelphia, Pennsylvania, also einem Nordstaat] war, haben wir immer diese Spirituals gesungen. Diese Musik war sehr wichtig für mich. Gospelsongs und Spirituals waren gewissermaßen die Basis. Sie bildeten die Grundlage für die Jazzmusik, genauso wie für den Blues.“13) – Da Glaubensgemeinschaften in recht unterschiedlicher Art Musik einsetzten (von getragenen Gesängen bis zu ekstatischem Tanz) kann aus Tyners Kindheitserinnerungen allerdings nicht ohne weiteres auf Coltranes musikalische Erfahrungen in der Kirche geschlossen werden.
Kenny Garrett (34 Jahre nach Coltrane geborener Saxofonist): „Für mich war John Coltrane als Komponist sehr stark von der Kirchenmusik beeinflusst. Er spielte eine Menge Songs, die von Kirchenchorälen oder vom Blues inspiriert wurden. Andere wiederum basierten wiederum auf den alten Negro-Spirituals. Ich denke, John Coltrane wurde damals auch von Mahalia Jacksons Musik beeinflusst. Viele seiner Songs basierten auf ein oder zwei Variationen. Anfänglich experimentierte er natürlich mit vielen Variationen, aber im Verlauf seiner Kariere improvisierte er auf der Grundlage einiger weniger Noten. Viele seiner Songs basierten auf den Spirituals. Er spielte eine Harmonie, die er durch verschiedene Akkordfolgen variierte. Mir gefiel sehr gut, was er machte. Die Leute waren von seiner Musik so begeistert, weil sie im Prinzip sehr einfach war. Die Strukturen waren sehr einfach, aber was er daraus machte, war harmonisch gesehen ungeheuer fortschrittlich.“14) – Garrett scheint seine Eindrücke aus der Beschäftigung mit Coltranes Musik gewonnen zu haben, nicht aus speziellen biografischen Informationen. Inwieweit die Einflüsse religiöser Musik, die er in Coltranes Aufnahmen feststellte, tatsächlich auf Coltranes persönliche Erfahrungen mit religiöser Musik zurückgehen, wird durch Garretts Einblicke daher nicht geklärt.
Salim Washington (32 Jahre nach Coltrane geborener Saxofonist): Coltrane habe die Sounds der Musik seiner Community und auch Radio gehört, in dem er Duke Ellington und dessen Star-Alt-Saxofonisten, Johnny Hodges, hörte, der Coltranes erstes musikalisches Idol gewesen sei. Wenn seine Großväter [beide Reverends der African Methodist Episcopal Zion Kirche] auch nicht einer der Holiness-Kirchen, die reiche musikalische Praktiken hatten, angehörten, so sei die Pentecostal Church [Pfingstkirche] mit ihren Spirituals und ihrer Blues-basierten Art des Gottesdienstes doch Teil des Geburtsrechts eines Afro-Amerikaners gewesen, besonders eines im Süden aufgewachsenen. Die African-Methodist-Episcopal-Konfession sei mehr als ein Jahrhundert vor den Pfingstkirchen gegründet worden. Es gebe auch deutliche Klassen- und Kultur-Unterschiede zwischen den Mitgliedern und Gottesdienst-Stilen. Während die African-Methodist-Episcopal (AME) in der Zeit der Sklaverei von und für Freigelassene gegründet wurde und ihren Hauptsitz in Philadelphia hatte, sei die Church of God in Christ (die erste registrierte Pfingstkirche in den USA) um die Wende zum 20. Jahrhundert von und für Farmpächter [Sharecroppers] des Südens gegründet worden. Natürlich habe jede Konfession im Laufe der Zeit eine größere Vielfalt an Mitgliedern umschlossen, aber es seien doch Unterschiede in den Gottesdienst-Stilen und in den Regeln bestehen geblieben. Während die AME-Kirche in ihrem Gottesdienst biederer sei, seien die Pfingstkirchen ekstatischer in ihrem Singen, Predigen und ihrer Bezeugung. Er behaupte nicht, dass alle „Schwarzen“ oder „Schwarzen“ des Südens die Rituale der Holiness-Kirche beschwören – so wie Geburtsrechte in Anspruch genommen oder ignoriert werden können. Aber es sei fruchtbar, diesen Einfluss in Coltranes später Musik zu bedenken. Viel von der offensichtlichen Spiritualität in seiner Musik könne treffend als sanctified im Geist und in der Form verstanden werden sowie zum Teil auch als Ergebnis seiner Studien geistlicher Musik der Hindu- und Sufi-Traditionen. Die Kirche, in der Coltrane aufwuchs, sei eine biederere, gesetztere Konfession, doch sein reifes Spiel erinnere sehr an die charismatische Art der Gottesdienst-Stile der Holiness-Kirche. Ebenso wichtig sei, dass Coltrane aus einer Mittelklasse-Familie15) kam, die in der Lage war, materiell und spirituell zu seiner Entwicklung beizutragen und zu helfen, ein Gefühl der Liebe und des Stolzes in Bezug auf sich selbst und generell auf das „schwarze“ Volk einzuprägen. Coltrane hätte nie seine musikalischen Wurzeln abgestreift.16) – Salim Washingtons Argumentation mit einem „Geburtsrecht“ ist wohl eine bloße Fiktion, mit der er die offenbar nicht klärbare Frage umschiffte, ob Coltrane weniger „biedere“ Gottesdienste als die der Konfession seiner Herkunftsfamilie kennenlernte und von ihnen beeinflusst wurde.
Die im Vergleich zu anderen eher „biedere“, „gesetzte“ Art der Konfession seiner Herkunftsfamilie könnte für Coltranes Haltung gerade bedeutend gewesen sein, da sie offenbar mit einem Streben nach einer als besser, höher empfundenen Form der Lebensführung verknüpft war. Der in der Großfamilie dominierende Großvater mütterlicherseits war redegewandt, politisch engagiert und sorgte für die Eröffnung der ersten Schulen für afro-amerikanische Kinder in der Kleinstadt sowie für die Bildung seiner Enkel.21) Diese Grundhaltung eines Strebens nach höheren Werten22) könnte die Ausgangsbasis von Coltranes unermüdlichem Ringen um musikalische Verbesserung gewesen sein, aber auch die Quelle des Gefühls geistiger Erhebung, die seine Musik ausdrückt. Den Glaubensgemeinschaften, die in hochemotionalen, häufig von Besessenheit begleiteten Ritualen eine Vereinigung mit Gott anstreben, scheint es demgegenüber weniger um persönliche Vervollkommnung zu gehen, sondern mehr um die unmittelbare Erfahrung von Erlösung. Das Streben der Coltrane-Familie war auch mit einem „Gefühl der Liebe und des Stolzes“ (Washington) verbunden, das Washington wohl zu Recht im Zusammenhang mit ihrem „Mittelklasse“-Status sah. Auch dieses Gefühl kommt in Coltranes Musik auf berührende Weise zum Ausdruck.
Andererseits klingt Coltranes Musik nie „bieder“, „gesetzt“ – auch nicht in Stücken mit religiösem Bezug, etwa im 1961 live aufgenommenen Spiritual23), in dem sein Spiel ein Gefühl von Tiefgründigkeit vermittelt und zugleich glühend ist. Ab seinem Album A Love Supreme (1964) rückte Coltrane religiöse Themen in den Mittelpunkt und verband sie mit einem nun regelrecht ekstatischen Ausdruck. Der exzessive Einsatz schrei-artiger Saxofonklänge scheint zum Teil von jungen Musikern der damaligen Free-Jazz-Bewegung angeregt worden zu sein, vor allem von Albert Ayler24), der seiner extremen Musik häufig ebenfalls spirituelle Bedeutung verlieh. Ayler hatte aber wie Coltrane in jungen Jahren wahrscheinlich keine Gottesdienste einer Holiness-Kirche25) erlebt und war in seiner Religiosität auch weniger tiefsinnig als Coltrane26) sowie in seiner spirituellen Orientierung selbst von Coltrane beeinflusst27). Außerdem war Coltrane schon lange vor dem Auftauchen des zehn Jahre jüngeren Aylers ein „glühender Prediger“ auf seinem Instrument.28) Die Musik seiner letzten Jahre ist das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses, in dem eine Verbindung von Spiritualität mit brennender Intensität zunehmend extremeren Ausdruck erhielt. Diese Verbindung scheint eine Besonderheit afro-amerikanischer Subkultur zu sein, während sonst im Westen Spiritualität eher von Andacht erwartet wird. Selbst wenn im christlichen Gottesdienst etwa durch laute Klänge der Kirchenorgel ein Gefühl von Größe und Erhabenheit erzeugt wird, dann erfolgt das stets in einer ruhigen, wohlgeordneten, geradezu steifen Form. Die „Wildheit“ afro-amerikanischer Religionsausübung, die einen afrikanischen Ursprung haben dürfte, widersprach seit jeher der vorherrschenden, „weißen“ Vorstellung von Frömmigkeit und wurde regelrecht als Gotteslästerung empfunden. So schloss zum Beispiel der Oberste Gerichtshof von South Carolina im Jahr 1938 eine Kirche, weil es in ihr „fortgesetztes Tanzen, sonderbaren Lärm und sonderbare Musik, Geschrei, Fußstampfen, schauerliche Klänge und die Verwendung von Trommeln, Posaunen, Hörnern und Waschbrettern“ gab.29) In asiatischen Religionen scheint der ruhige Weg der Versenkung durch Meditation noch ausgeprägter als im Christentum zu überwiegen. Wohl deshalb irritierte Coltranes Musik den indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, mit dem er im Kontakt stand. Shankar fragte Coltrane bei ihrer letzten Begegnung Ende 1964: „Wie kommt es, dass ich diesen furchtbaren Aufruhr in deinen schrillen Tönen höre? Das hat mich wirklich beunruhigt.“30) Später sagte Shankar: „Seine Musik beunruhigte mich sehr. Hier war eine kreative Persönlichkeit, ein Mensch, der Vegetarier geworden war, Yoga studierte und das Bhagavad-Ghita las, in dessen Musik ich aber dennoch viel Aufruhr hörte. Ich konnte es nicht verstehen.“31) Shankar erwähnte ein Stück seiner eigenen Musiktradition, das als „Anrufung oder Gebet“ gedacht ist. Es werde ohne Trommeln gespielt, „ganz langsam und ruhig“, und sei „sehr, sehr spirituell“.32) – Es gibt wunderschöne ruhige Aufnahmen Coltranes, doch überwiegt in vielen seiner Stücke, besonders in denen seiner letzten Jahren, eine wilde, ekstatische Art von Spiritualität, für die kaum33) eine andere Tradition als kulturelle Wurzel in Frage kommt als die der betreffenden afro-amerikanischen Kirchen. Wie Coltrane im Einzelnen von ihnen beeinflusst worden sein muss, ist offensichtlich nicht rekonstruierbar. Coltrane war allgemein wortkarg34) sowie gegenüber Interviewern zurückhaltend und es scheinen auch keine aufschlussreichen Aussagen anderer Personen vorzuliegen. Allerdings war durch die in afro-amerikanischen Kreisen beliebte Gospel-Musik der Einfluss der Holiness-Kirchen mit ihrem Kult der Expressivität und Intensitätssteigerung allgegenwärtig – auch durch die afro-amerikanische Tanz- und Unterhaltungsmusik, die viele Elemente aus den Kirchen weitertransportierte.35)
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