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Joe Harriott als Europäer


Für Ekkehard Jost begann „Europas Jazz“ um 1960 mit den „Free-Form-Erkundungen“1) des Saxofonisten Joe Harriott, der in Jamaika aufgewachsen und im Jahr 1951 als 23-Jähriger nach England übersiedelt war. Harriott war überdies – wie auch sein Trompeten-Partner und der Bassist seiner Band – Afro-Amerikaner. Nur der Pianist und der Schlagzeuger seiner Band waren tatsächlich Briten. Auch haben Harriotts Aufnahmen aus den beginnenden 1960er Jahren, die laut Jost Vorstöße in den Free-Jazz darstellen, keineswegs einen typisch europäischen Charakter. Vielmehr hielt Jost einen Einfluss des amerikanischen Musikers Eric Dolphy auf Harriotts Spielweise für wahrscheinlich2) und Harriotts Art von Free-Jazz war nicht wesentlich anders als die in den USA entstandenen Formen, auch wenn sein Grad an „Freiheit“ nach Josts Ansicht in den USA erst ein wenig später (unabhängig) erreicht wurde. Trotz positiver Kritiken sogar in amerikanischen Zeitschriften fand Harriotts „freie“ Musik in seinem Umfeld kaum Anklang, geriet in Vergessenheit und blieb daher im Wesentlichen ohne Einfluss auf weitere Entwicklungen in Europa. Die Rolle als europäischer Jazz-Pionier, die Jost ihm nachträglich gab, ist also zu bezweifeln. Harriott war in Wahrheit ein heimatloser, einsamer Afro-Amerikaner aus der Karibik, der niemandem traute3), unter den schlechten Bedingungen für seine Musik litt und 1972 im Alter von 44 Jahren starb – verarmt, „zutiefst verbittert“4) und wirkungslos. Im Jahr seines Todes kehrte sein Trompeten-Partner in seine karibische Heimat zurück.

Jost beschrieb das Stück Shadows (aus dem Album Abstract, 1961/1962) als eine Art „Schlüsselwerk“ des Harriott-Quintetts, weil es aus einer „freien Kollektiv-Improvisation“ besteht, „tonal ungebunden“ ist, auf „jeden rhythmischen Puls“ verzichtet und damit einen „Stand der Materialentwicklung [habe], wie er im Free-Jazz amerikanischer Provenienz erst ein paar Jahre später erreicht wurde“.5) – Das entscheidende Kriterium scheint für Jost somit der Grad gewesen zu sein, in dem die Musik von der Jazz-Tradition weg in Richtung Free-Jazz vorangeschritten war. Dass andere Stücke Harriotts etwa in rhythmischer und melodischer Hinsicht möglicherweise stimmiger, musikalischer sind6), war für Josts Sichtweise offenbar nicht relevant. Für ihn kam es offenbar allein auf den „Fortschritt“ in Richtung „Befreiung“ an sowie darauf, dass dieser „Fortschritt“ auf europäischem Boden erreicht wurde – von wem auch immer.

 

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  1. QUELLE: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 13
  2. QUELLE: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 33
  3. Coleridge Goode (Harriotts ebenfalls aus Jamaika stammender Bandkollege am Bass) sagte, dass Harriott „so eine Art von Todessehnsucht in sich trug. Alles, was er tat, war selbstzerstörerisch, absolut alles … Vermutlich glaubte er, dass jeder gegen ihn sei. Er schien niemals zu wissen, wer seine Freunde waren“. (QUELLE: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 39)
  4. QUELLE: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 38
  5. QUELLE: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 37 und 38 – Jost sagte über dieses Stück auch: Die Grundstimmung sei „dramatisch, bisweilen bedrohlich“, es gebe „jede Menge dissonante Klangreibungen“, eine „sehr intensive Konzentration auf Klangfarbe“, ein „extrem heterogenes Klangbild“, jedoch auch ein „hohes Maß an Klarheit“.
  6. Nach Ansicht des britischen Trompeters Ian Carr, der mit Harriott zusammengespielt hatte, verfügte Harriott über einen „unerschöpflichen Fundus von rhythmischen und melodischen Ideen“ und eine großartige Technik. (QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestley, Rough Guide Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2004, S. 567)

 

 

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