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Der deutsche Musikwissenschaftler Ekkehard Jost entwarf im Jahr 1998 folgendes Bild von der Zukunft des Jazz: In den USA werde der Jazz zu einer weitgehend abgeschlossenen, sich nicht mehr weiter entwickelnden Musikart, ähnlich wie die Barockmusik oder die alpenländische Volksmusik. In Europa hingegen bliebe der Jazz eine „dynamische, in permanenter Entwicklung befindliche musikalische Praxis“. Die Stagnation in den USA ergäbe sich dadurch, dass afro-amerikanische Musiker den „vorgeblich echten und wahren Jazz“ aus der Zeit vor der Free-Jazz-Bewegung wiederentdeckten und dieser „regressive Mahlstrom“ Innovation verhindere.1) Jost bezog sich mit dieser Aussage vor allem auf die vom afro-amerikanischen Trompeter Wynton Marsalis repräsentierte traditionsbewahrende Richtung, die er als „reaktionäre Fraktion“ bezeichnete. Dieser warf er vor, sie würde den „multinationalen Konzernen“ die „ideologische Basis“ für deren „innovationsfeindliche Veröffentlichungspolitik“ liefern, noch dazu mit einer „rassistischen Komponente“.2) Marsalis Ausrichtung auf die Jazz-Tradition bezeichnete Jost als „Neokonservativismus“3), der zwar „sicher nicht durch die Reagan/Bush-Ära verursacht“ wurde, jedoch „sehr gut mit ihr zusammenpasst“4).
Josts Aussage erreichte gewiss nur eine begrenzte Zahl Jazz-Interessierter, doch scheinen ähnliche Sichtweisen in europäischen Jazz-Kreisen verbreitet gewesen zu sein. Denn der englische Jazz-Kritiker Stuart Nicholson behauptete 2001, der norwegische Musiker Bugge Wesseltoft habe mit folgender Aussage für viele gesprochen: „Ich denke, amerikanischer Jazz ist irgendwie wirklich zum Stillstand gekommen, vielleicht in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren. Ich habe in den letzten 20 Jahren keine einzige interessante Platte gehört. Er ist wie ein Museum, das Sachen präsentiert, die bereits abgeschlossen sind.“5)
Solche Aussagen und entsprechende Seitenhiebe auf afro-amerikanische Traditionalisten wie Wynton Marsalis waren dann immer wieder zu lesen. Sich von Marsalis zu distanzieren, schien regelrecht ein Bestandteil europäischer Jazz-Identität geworden zu sein. Ein kurioses Beispiel dafür findet sich in einem kleinen Buch eines deutschen Autors, in dem 120 Alben der Jazz-Geschichte empfohlen werden.6) Darin wird auch ein Album von Wynton Marsalis vorgestellt, allerdings mit einem Kommentar, der in einer negativen Bewertung endet: „Schulmeisterlich perfekt wird hier das Afroamerikanische an sich in den Mittelpunkt gestellt und bleibt doch aufgrund der legendenhaft simplifizierenden Handlung und eng festgelegten Musik rhapsodisch.“7) Abgesehen davon, dass diese Worthülsen keine im Detail verständliche Aussage ergeben, stellt sich die Frage, warum der Autor diese Platte empfiehlt, wenn er sie nicht gut findet. Marsalis‘ Musik hat aufgrund des überwiegend bewahrenden Charakters keine besondere Bedeutung in der Jazz-Geschichte, sodass sie in einer Sammlung von 120 Alben nicht vertreten sein müsste. Außerdem wies der Autor im Vorwort darauf hin, dass er „die europäische Szene aus der heutigen Sicht für wichtiger“ halte als manche seiner Kollegen.8) Warum beschäftigte er sich dann dennoch mit Marsalis?
Wynton Marsalis erkämpfte sich in den 1980er und 1990er Jahren eine mächtige Position im Jazz. Die von ihm damals in den Medien inszenierten Provokationen verletzten viele Musiker, widersprachen Marsalis eigenem Ideal gegenseitigen Respekts9) und wurden daher zu Recht heftig kritisiert. Der Konkurrenzkampf zwischen den unterschiedlichen Auffassungen, den Marsalis damals entfachte, ist allerdings einer von vielen in der Jazz-Geschichte und solche Streitigkeiten wurden auch früher manchmal offen ausgetragen. Der Zwist ebbte ab, die von Marsalis geleitete Institution Jazz at Lincoln Center erweiterte ein wenig ihr stilistisches Spektrum10) und Marsalis erwies sich mit seiner aufrichtigen Hingabe an die afro-amerikanische Jazz-Tradition als wertvoller Förderer der öffentlichen Wahrnehmung des Jazz.11)
Für den Jazz selbst ist die vielleicht wichtigste Anregung, die von Marsalis ausging, ausgerechnet der am heftigsten umstrittene Punkt seiner Botschaft: sein Traditionsbezug. Nun mag zwar seine Art dieses Bezuges verfehlt oder zumindest nicht verallgemeinerbar sein, doch sind die Meisterwerke der Jazz-Geschichte nicht einfach überholt, sondern bilden nach wie vor den Maßstab für alles Weitere. Natürlich wollen sich Musiker möglichst frei entfalten und mit allem, was sie hervorbringen, ankommen. Das Musikgeschäft braucht Neues um zu florieren. Hörer sehen sich gerne in ihrem (oft oberflächlichen) Geschmack bestätigt und das modern, neu, jugendlich Erscheinende hat einen starken Reiz. So ist es unbequem, aber dennoch notwendig zu fragen: Was von all dem laufend Produzierten kann vor den Meisterwerken bestehen? Für Qualität, Kontinuität und Identität einer Kultur braucht es Traditionsbezug – allerdings einen Traditionsbezug, der über bloße Bewahrung hinausgeht. Marsalis Antworten mögen verfehlt sein, doch das Thema des Traditionsbezugs, das er eindringlich inszenierte, war wohl überfällig und bläst eine Menge Rauch weg.
Dieses Jazz-Verständnis entzieht der Vorstellung von europäischer Unabhängigkeit und Gleichwertigkeit den Boden. Das ist wohl der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Marsalis. Ihn als „reaktionäreren“, rassistischen Handlanger multinationaler kapitalistischer Interessen im Stil des Neoliberalismus von Reagan und Bush zu dämonisieren, ist jedenfalls abwegig. Sein bürgerlicher Rahmen, der für die Mehrheitsgesellschaft Kultiviertheit signalisiert, seine Wertschätzung für Bildung und Leistung und sein Traditionsbezug sind keineswegs „reaktionär“ und nicht Ausdruck einer konservativen politischen Orientierung. Mit seiner lockeren, intelligenten, gefühlvollen, heiteren und charmanten Art ist er in Wahrheit ein bestens geeigneter, breitenwirksamer Vermittler des Jazz und im Fahrwasser seiner Mission kann auch Interesse an aktuelleren, kreativeren Formen von Jazz entstehen.
Im Übrigen klingt vieles, was Marsalis spielte, trotz traditionellem Outfit wesentlich stärker und hipper als europäischer „Emanzipations-Jazz“. Der „weiße“ Saxofonist John Zorn, der eine weit von der Jazz-Tradition entfernte, avantgardistische Musikrichtung anführte, sagte: „Vieles von dem, was Wynton anpackt, ist großartig. Dieses Solo auf Citizen Tain12) – hast du das mal gehört? That’s fucking smokin’! Der kann sich den Arsch abspielen.“13) Zorn war also durchaus in der Lage, Marsalis‘ Können und die Kraft dieser traditionellen Jazz-Form zu würdigen.
Mehr als Marsalis
Howard Mandel, Präsident der amerikanischen Jazz Journalists Association, sagte 2009: Stuart Nicholson „bediente Vorurteile wie: In Amerika wolle jeder so spielen wie Wynton Marsalis – und dass die gesamte Jazzausbildung in den USA von Marsalis dominiert sei – das ist Unsinn. An der Auswahl seiner Gesprächspartner sehe ich, dass er keinerlei Zugang zu und Ahnung von der amerikanischen Szene hat.“14) – Der „weiße“ Pianist George Colligan führte 2005 eine Reihe amerikanischer Musiker an, deren innovative Beiträge auch der in Europa lebende Nicholson kennen müsste. Nicholsons Darstellung sei völlig verfehlt.15)
Die Lebenspartnerin des afro-amerikanischen Free-Jazz-Bassisten Henry Grimes präsentierte im Internet Jahre lang Programmlisten von bevorstehenden Konzerten in New York. Sie konzentrierte sich auf Musiker, die keine Imitatoren sind, sondern über die Tradition hinausgehen.16) Die Fülle der Veranstaltungen untermauerte folgende Aufforderung auf ihrer Internetseite: „Wenn dir also Leute sagen, unsere Musik würde heute nicht gespielt werden, so finde heraus, warum sie dich belügen!“17)
Eine bemerkenswerte Auswahl innovativer, anspruchsvoller Aufnahmen veröffentlicht die im Jahr 2001 gegründete New Yorker Musikproduktionsfirma Pi Recordings.
Der wichtigste Unterschied zu den europäischen Szenen besteht darin, dass in den USA kreative Entwicklungen stattfinden, die auf den spezifischen Qualitäten afro-amerikanischer Tradition aufbauen und sie zum Teil, insbesondere hinsichtlich der Rhythmik, sogar noch intensivieren.18)
Kreative Jazz-Musiker sind in den USA mit wesentlich schwierigeren Verhältnissen konfrontiert als in Europa. Das waren sie schon immer und man braucht es ihnen nicht noch schwerer zu machen, indem man ihre Existenz mit der Behauptung leugnet, in den USA gebe es nichts mehr anderes als traditionellen Marsalis-Jazz.
Das Ausblenden der zentralen Bedeutung der Tradition im Jazz sowie der aktuellen innovativen Leistungen von Musikern in Amerika mag hilfreich für die Vorstellung sein, europäische Musiker hätten im Jazz die Führung übernommen. Doch führt diese eigenwillige Vorstellung in eine Parallel-Realität, in der ein Teilhaben an bedeutenden Entwicklungen versäumt wird und ein tiefergehendes Jazz-Verständnis nicht mehr möglich ist.
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