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Steve Coleman über unterschiedliche „Umlaufbahnen“ seiner Rhythmen


Vor allem die unterschiedlich langen Umlaufbahnen der Planeten regten Coleman dazu an, zwei oder mehrere rhythmische Figuren mit unterschiedlich langen Zyklen gleichzeitig ablaufen zu lassen.1) Er nennt daher die musikalischen Zyklen häufig „Orbits“ (Umlaufbahnen).2) Durch die unterschiedlichen Längen der Zyklen verschieben sich die rhythmischen Figuren im Verhältnis zueinander laufend, sodass sie komplexe, sich ständig wandelnde rhythmische Geflechte bilden. Coleman verstand das Spielen solcher schwieriger Rhythmen aber keineswegs als bloße intellektuelle Übung. Er sagte vielmehr: Das Wichtigste sei dabei, das Gefühl für diese Dinge ohne Instrument zu internalisieren. Man müsse sie zuerst im Körper fühlen und das gelte für die Musik allgemein, auch für die Tonhöhen-Belange. Sie müssten innerlich gefühlt, internalisiert werden. Man müsse die Tonhöhen hören, Improvisationen singen, Rhythmen singen können und so weiter. All das müsse internalisiert, im Körper sein und das Instrument solle dann einfach eine Erweiterung von all dem sein.3)

Bei den unterschiedlichen Zyklen lege er den Schwerpunkt auf den Rhythmus, nicht auf den Zyklus, denn er denke mehr an die Rhythmen als an die Zyklen, doch kämen die Zyklen hier ins Spiel. Coleman sang die „Clave“ (wie er es nannte; offenbar nicht die kubanische Clave) seines Stückes Law of Balance vor und sagte dann: Sie sei recht kompliziert, aber es gebe da all die verschiedenen Kontrapunkt-Sachen, die in den Rhythmen ablaufen, und wenn man diese Art Schichten laufen hat und darüber spielt, dann gebe es eine Menge, mit dem man spielen kann. Es gebe viele verschiedene Wege, zu unterschiedlichen Arten von Kontrapunkten zu gelangen und so weiter. Er achte auf all die verschiedenen Dinge, die in den Rhythmen ablaufen, auf all die verschiedenen Löcher, Verbindungen, auf die Stellen, wo etwas fällt, ohne dass im anderen Rhythmus etwas fällt, wo Dinge früher kommen als andere und so weiter. Es gebe da eine große Vielfalt an rhythmischem Material und damit für den Solisten eine Menge, mit dem er spontan spielen kann, in das er eintauchen und aus dem er wieder herausgehen kann. Es sei fast so, als würden Faustschläge gegen einen geführt werden, ohne dass man eine Verteidigung hat. Man winde sich, wippe, achte auf das Schulterrollen, auf die unterschiedlichen Arten von Schlägen, die auf einen zukommen, sodass man sich bei seinem Hindernislauf ducken und zurückbewegen kann.4)

Die Rhythmen (auch Melodien, aber besonders die Rhythmen) seien für ihn einfach Formen, die er in seiner Vorstellung visualisiere. Er behalte sie als visualisiertes Bild. Das Klangbild und das visuelle Bild seien in seiner Vorstellung nahezu ein und dasselbe. Er wisse nicht, wie das bei anderen ist. Er assoziiere den Klang mit den Rhythmen und das ergebe eine Art zusammengesetztes Bild, das er in seinem Kopf behalte. Er sehe dieses Bild vor sich, wie es sich in der Zeit voran bewegt, denn Musik sei natürlich Bewegung. – So stelle auch die „Clave“ des Stückes Law of Balance für ihn ein Bild dar. Es gebe hier nun jedoch zwei Bilder, die sich in Beziehung zueinander bewegen. Sie seien wie zwei Stücke Sandpapier, die aneinander reiben, vor und zurück. Man müsse die Fähigkeit entwickeln, diese beiden sich bewegenden Bilder gleichzeitig in seinem Kopf aufrecht zu halten. Und sein Ziel sei es, diese Dinge machen zu können, sobald sie ihm in den Sinn kommen – ohne zu üben. Denn das sei echte Improvisation, echte spontane Komposition. Natürlich gebe es viele kleine Keime, die man internalisiert, um das machen zu können. Er vergleiche das mit der Sprache, bei der man viele verschiedene Worte hat, und er verwende zum Beispiel bei seinen Erläuterungen hier keine Wörter, die er nicht schon früher verwendete. Aber die konkrete Reihe von Sätzen, die er gerade bildet, um etwas zu erklären, habe er gewiss noch nie gebildet. Somit mache er eine neue Komposition aus Worten, die er bereits kennt. So sehe er das Spiel von Charlie Parker, John Coltrane und vieler anderer. Sie konnten auf der Stelle viele verschiedene Dinge zusammensetzen. Es sei immer eine Frage des Maßes, in dem man das kann, wie flexibel man ist. Das hänge davon ab, wie man übt. Wie ihm der große Joe Henderson einmal sagte, habe man bei seinem Auftritt eine größere Chance, kreativ zu sein, wenn man kreativ geübt hat. Man müsse üben, Chancen wahrzunehmen und Dinge zum ersten Mal anzugehen. Der große Saxofonist Von Freeman habe ihm einmal gesagt, er wolle eine Idee spielen, sobald er sie hat.5)

 

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  1. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 1: Overview, Part I, Audio im Abschnitt 19:33 bis 21:00 Minuten, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  2. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Products/PolyRhythmic Signatures Package, Video P004-3-PolyRhythmic Signatures, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  3. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Products/PolyRhythmic Signatures Package, Video P004-3-PolyRhythmic Signatures, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  4. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Products/PolyRhythmic Signatures Package, Video P004-4-PolyRhythmic Signatures, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  5. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Products/PolyRhythmic Signatures Package, Video P004-4-PolyRhythmic Signatures, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net

 

 

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