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Bewegung


Groove wird aus Bewegungsgefühl heraus erzeugt, drückt Bewegung aus und regt zu Tanzbewegung an, zumindest zu einer Art innerlichem Tanz, den man vielleicht nicht bewusst wahrnimmt, der sich jedoch in einem unwillkürlichen Fußwippen oder in anderen kleinen rhythmischen Körperbewegungen ausdrücken kann. Letztlich beruht jedes Rhythmus-Empfinden auf Bewegungsgefühl: Studien ergaben, dass „man offenbar die Steuerung der Körperbewegungen, vor allem die Planung der Bewegungen, braucht, um die rhythmische Komponente einer Musik überhaupt wahrnehmen zu können. Aus der sensomotorischen1) Perspektive ist ein wahrgenommener Beat buchstäblich eine vorgestellte Körperbewegung. Der Akt des Musikhörens benutzt dieselben mentalen Prozesse, die die Körperbewegung erzeugen.“ (Vijay Iyer)2) Die komplizierte Art der Fortbewegung des Menschen auf nur zwei Beinen erfordert eine sehr exakte zeitliche Koordinierung der Bewegungen durch einen besonders feinen Sinn für Rhythmus.3) In der Evolution entstanden neue Fähigkeiten häufig dadurch, dass bereits bestehende Funktionen auf neue Bereiche ausgedehnt wurden. So scheinen sich die „höheren“4) Hirnfunktionen aus dem weit älteren Sinn für Körperbewegung entwickelt zu haben, indem die Koordinierung der körperlichen Bewegungen auch eine wesentliche Rolle beim Lenken der Gedanken übernommen hat.5) Musik spielt sich im Ablauf der Zeit ab, sie ergibt nie ein stehendes Bild und kann daher nur als Bewegung erfasst werden. Die vielfältigen Empfindungen, die mit Bewegung, insbesondere mit Körperbewegung, verbunden sind, bilden den Kern des Grooves.

Wie man beim Gehen den Fuß aufsetzt, die Zehen bewegt, die Beine abwinkelt und wieder streckt, das Becken kippt und dreht, den Oberkörper im Gleichgewicht hält und die Arme ausgleichend schlenkert, das ist viel zu kompliziert, um es sich bei jedem Schritt zu überlegen. Die meisten Körperbewegungen setzen sich aus vielen Einzelbewegungen zusammen, die man nicht alle gleichzeitig bewusst kontrollieren kann. Im Wesentlichen steuert man Bewegungen mit dem Bewegungsgefühl intuitiv und ein feines Gespür für geschickte Bewegung ist für das Überleben in der Natur von elementarer Bedeutung. Wohl darum sind gewandte, geschmeidige Bewegungen wie andere Körperfunktionen, von denen die Arterhaltung abhängt (Essen, Sex und so weiter) mit angenehmen Gefühlen verbunden, sodass wir automatisch zu ihnen hingeführt werden. Bei Kindern ist die Freude an Bewegung unübersehbar und in Sport und Tanz gehen auch Erwachsene selbst in unseren westlichen Lebensverhältnissen mitunter dieser Lust nach. Aber nicht nur selbst ausgeführte Bewegungen können belebend wirken, sondern auch das Wahrnehmen der Bewegungen anderer kann das Bewegungsgefühl anregen. Denn sie können auf plastische Weise in der Vorstellung mit dem eigenen Bewegungsgefühl nachvollzogen werden, was offenbar mithilfe der so genannten Spiegelneuronen funktioniert, die beobachtete Handlungen so abbilden, als würde man selbst handeln. Eine Handlung, die einem bekannt ist, wird sogar dann miterlebt, wenn man etwa bloß die Geräusche hört, die mit dieser Handlung üblicherweise verbunden sind.6) Dieses Phänomen dürfte wohl eine Rolle spielen, wenn eine gehörte Musik mit der Erinnerung an Tanzbewegungen oder an die Bewegungen der improvisierenden Musiker verknüpft wird.7)

Kinder und Jugendliche ahmen oft mit erstaunlicher Geschicklichkeit die Bewegungen und Gesten Gleichaltriger, Erwachsener oder Figuren aus dem Fernsehen nach und handwerkliche Fertigkeiten, eine Sportart oder Tanzbewegungen erlernt man auch als Erwachsener primär durch ein Nachempfinden der Handlungen anderer (Lehrer, Trainer). Anregende Eindrücke durch Bewegungen anderer kann man in vielen Situationen finden, zum Beispiel bei einem Sprung des legendären afro-amerikanischen Basketballspielers Michael Jordan, bei dem er gleichzeitig ausholt und den Ball wirft. Der weitgereiste Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt sagte im Alter von 72 Jahren: „Ich genieße es heute noch, wenn ich in schwarzen Städten durch die Straßen gehe, die völlig anderen Bewegungsabläufe jener Menschen zu beobachten, diesen federnden, schwingenden Gang.“8) Es gibt eine Art afro-amerikanische Bewegungskultur, die in Musik, Tanz, Sport sowie einer Verbundenheit dieser Bereiche zum Ausdruck kommt. Berendt: „Nicht zufällig sprechen Sportfachleute von der besonderen Sensibilität für Körper-Rhythmen, die es bei den großen schwarzen Athleten – den Boxern, Sprintern, Baseball-Spielern zumal – gibt“ und dieses spezielle „body feeling“ sei auch im Jazz zu beobachten.9) Der Schlagzeuger Max Roach erklärte: „Stepptanz und Schlagzeugspiel haben vieles gemeinsam. Beide spielen und jonglieren mit oft sehr ausgefallenen Rhythmen und beide, Tänzer und Schlagzeuger, müssen ihren Körper einsetzen. Beim Stepptanz ist Körpereinsatz Ein und Alles und auch die Drummer müssen sehr viel mit ihren Händen und Füßen arbeiten. Wir drücken viel mit unserem Körper aus und müssen dabei einen guten Klang erzeugen.“10) Nicht nur bei Schlagzeugern und anderen Perkussionisten ist die Musik zu einem guten Teil Ausdruck von Körperbewegung. Es bringt einem zum Beispiel auch die Musik des Pianisten Thelonious Monk näher, seine Bewegungen am Klavier zu beobachten. Cecil Taylor konnte nach eigener Aussage bestimmte Bewegungsabläufe in der Musik des Alt-Saxofonisten Charlie Parker erst verstehen, als er zu dessen Füßen im New Yorker Jazzklub Birdland saß und "nicht bloß hören, sondern auch sehen konnte, dass den musikalischen Abläufen körperliche, sichtbare entsprechen, ja dass oft die körperlichen eher da sind als die hörbaren.“11)

Im südlich der Sahara gelegenen Afrika ist Musik weitgehend „eine Körperbewegungsaktivität, die fast untrennbar mit Tanz verbunden ist. … Musikhören bedeutet dort oft automatisch Körperbewegung … Viele zentral- und westafrikanische Sprachen haben für Musik gar kein eigenes Wort und wenige betrachten Rhythmus als eine abtrennbare, abstrakte Komponente von Musik. Rhythmus wird als Stimulierung zu Körperbewegung verstanden und mit dem Namen des Tanzes bezeichnet.“ (Vijay Iyer)12) Natürlich dient Musik nicht nur in Afrika dem Tanz, vielmehr findet sich Groove bis zu einem gewissen Grad in allen Teilen der Erde. West-afrikanische Kulturen haben diese Komponente der Musik jedoch besonders stark entwickelt und durch die Verschleppung von Afrikanern nach Nord- und Südamerika gelangten ihre Groove-Kulturen in die westliche Welt. Dort sorgte zwar auch europäische Volksmusik für Spaß an Bewegung, doch wurde dieses Vergnügen großteils als weniger „zivilisiertes“ und nicht selten „sündhaftes“ Verhalten betrachtet, das eher armen, „ungebildeten“ Leuten, übermütigen Jugendlichen oder Außenseitern zugestanden wurde als respektablen Bürgern. Europäische Kultiviertheit verlangte Distanzierung vom Körperlichen13) (zum Beispiel durch hochgeschlossene Krägen, einengende Kleidung selbst bei Hitze14)), Reduzierung der Bewegung (zum Beispiel lief ein Herr nicht15)) und Steifheit (lockere Bewegungen galten als undiszipliniert, lächerlich; selbst bei schwungvollen Tänzen wie dem Walzer blieb der gesamte Oberkörper in einer steifen, aufrechten Haltung, nur die Füße trippelten16)). Aufgrund dieser bürgerlichen Vorstellungen von Zivilisiertheit wurde bereits die Ragtime-Musik, die dem Jazz vorausging und in weiten Teilen der USA unter der Jugend populär war, heftig kritisiert.17) Welche neuartige, belebende Wirkung der Groove früher afro-amerikanischer Musik in die westliche Welt brachte, macht folgendes Zitat eines Zeitgenossen deutlich: „Ich entdeckte plötzlich, dass sich meine Beine in einem Zustand großer Erregung befanden. Sie zuckten, als wären sie elektrisch geladen, und offenbarten ein beträchtliches und ziemlich gefährliches Verlangen, mich vom Stuhl zu reißen.“18) Afro-amerikanische Subkultur faszinierte mit ihren mitreißenden Grooves und ihrer emotionalen Ausdruckskraft vor allem junge Menschen und führte durch einen anhaltenden Einfluss auf die Popkultur ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Veränderung westlicher Lebensart, wie folgende Aussage Berendts aus dem Jahr 1994 aufzeigt: „Unsere ganze Zivilisation bekommt ja heute einen schwarzen Impetus, eine Injektion an Schwärze, von der wir, die ja einst auf verlorenen Außenposten dafür kämpften, nie hätten träumen können. Allein die Art, wie junge Leute sich heute bewegen, zeigt, was sich in dieser Hinsicht verändert hat. Unvorstellbar meiner Generation, die ja immer für ein mehr körperliches Bewusstsein gekämpft hat.“19) Dieser Einfluss auf den Lebensstil allein scheint allerdings noch kein differenzierteres Empfinden für Groove mitsichzubringen.20)

Groove erfordert ein Gespür für die (Körper)-Bewegung, die er ausdrückt, die in ihm quasi verschlüsselt ist. Musik, in der Groove eine zentrale Rolle spielt, unterscheidet sich in ihrer Ästhetik von anderen Musikarten und enthält häufig einen Ausdruck der unmittelbaren, körperlichen Beziehung des Musikers zu seinem Instrument. Damit bildet sie nicht nur abstrakt gedachte Melodien, Harmonien und Rhythmen ab, sondern auch die direkte Bearbeitung der Instrumente, die Bewegungsabläufe auf ihnen, die Geschicklichkeit ihrer Handhabung und so weiter. Anschauliche Beispiele dafür sind die Improvisationen und Themen des Jazz-Pianisten Thelonious Monk.21)

Einen subtilen Ausdruck von Bewegungen erreicht Groove-Musik unter anderem dadurch, dass sie mit kleinsten zeitlichen Verschiebungen gegenüber einem starren zeitlichen Raster spielt. Ein solches kunstvolles Timing entspringt unmittelbar dem hoch entwickelten Gespür der Musiker für Bewegung in ihrem Spiel. Auch auf der Seite der Hörer bedarf es einer entsprechenden Sensibilisierung für diesen speziellen musikalischen Ausdruck.22)

Dadurch, dass der Jazz den melodischen und harmonischen Reichtum der europäischen Musikkultur sowie ihre Instrumente übernommen hat, verfügt er über ausgezeichnete Möglichkeiten, Bewegungen auch in tonaler23) Hinsicht in plastischer Weise darzustellen. Mit der Vielfalt verschieden „hoher“ und „tiefer“ (also mit einem räumlichen Bezug wahrgenommener) Töne können Melodie-Linien großartig gestaltete Bewegungsverläufe abbilden. Harmonien schaffen fiktive Räume, Bezugsrahmen, in denen sich Melodien bewegen. Ihre Spannungen und Auflösungen, Veränderungen des Sounds, Interaktionen mehrerer Stimmen und so weiter, all diese Gestaltungsmittel können dazu beitragen, komplexe Bewegungen auf plastische Weise auszudrücken.

Das Spiel des Jazz mit der Bewegung hat häufig Parallelen zu gewissen Elementen von Sportkämpfen, an denen viele Jazz-Musiker interessiert waren.
Mehr dazu: Kampfkunst

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Der Begriff „Sensomotorik“ bezeichnet das Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Funktionen, also die Steuerung und Kontrolle der Körperbewegungen aufgrund von Sinnesrückmeldungen.
  2. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  3. Christoph Drösser: „Das zweibeinige Gehen unterscheidet sich […] grundlegend vom vierbeinigen. Ein Vierbeiner steht immer sicher […]. […] Unser Gleichgewicht ist nicht statisch, sondern ‚dynamisch‘ – was nichts anderes heißt, als dass wir ständig kontrolliert fallen. Und um bei diesem Prozess nicht ins Straucheln zu geraten, ist eine sehr exakte zeitliche Koordinierung aller Körperbewegungen nötig – eben Rhythmus.“ (QUELLE: Christoph Drösser, Der Musik-Verführer, 2009, S. 105) An der Parkinsonschen Krankheit Leidende haben Gehprobleme; eine Verbesserung lässt sich erreichen, wenn ihnen bei Gehübungen ein einfacher Takt akustisch vorgespielt wird. (QUELLE: Christoph Drösser, Der Musik-Verführer, 2009, S. 112)
  4. die kognitiven Funktionen, das heißt Denken im weitesten Sinn
  5. John J. Ratey: „[...] Forschungsergebnisse häufen sich, die darauf hindeuten, dass Bewegung für alle anderen Hirnfunktionen maßgeblich ist, auch für Gedächtnis, Emotion, Sprache und Lernen. Denn unsere ‚höheren‘ Hirnfunktionen haben sich aus der Bewegung heraus entwickelt und sind nach wie vor von ihr abhängig. – Neurologen haben festgestellt, dass das Kleinhirn, das die körperlichen Bewegungen koordiniert, auch die Bewegung der Gedanken lenkt. So wie es die nötigen Bewegungen veranlasst, um einen Ball zu fangen, steuert es auch die Gedankenfolge, die wir brauchen, um die Küche vor unserem geistigen Auge zu sehen, eine Schlussfolgerung zu ziehen oder uns eine Melodie auszudenken.“ (QUELLE: John J. Ratey, Das menschliche Gehirn, 2001, S. 178) – Ein Beispiel: „Neurowissenschaftler der Universität Melbourne konnten allein an der Augenbewegung vorhersagen, welche Zahl ihre Versuchspersonen als Nächstes wählen würden. […] Denken wir an Zahlen, so erscheinen sie vor unserem inneren Auge in einer räumlichen Anordnung, wobei kleinere Zahlen links, größere rechts liegen. Um uns in diesem imaginären Zahlenraum zurechtzufinden, nutzt das Gehirn interessanterweise die gleichen Gehirnprozesse, die auch für die Navigation in der realen Welt zuständig sind. Deshalb bewegen sich beim Denken an Zahlen die Augen einfach mit und verraten damit unsere Gedanken. „Es scheint also eine komplexe Verbindung zwischen scheinbar abstrakten Gedanken und der Bewegung unseres Körpers zu geben“, erklärt der Studienautor Tobias Loetscher.“ (QUELLE: Zeitschrift Psychologie Heute, Oktober 2010, S. 11)
  6. Zum Beispiel erzählte Manfred Spitzer in einer Folge der TV-Reihe Geist und Gehirn, dass Affen in Versuchen die Handlung des Aufknackens von Nüssen allein schon dann erlebten, wenn sie das Geräusch des Aufknackens hörten.
  7. John Miller Chernoff: „Fragt man einen Afrikaner, ob er eine bestimmte Art von Musik ‚verstehe’, dann sagt er ‚ja’, wenn er den Tanz kennt, der zu dieser Musik gehört.“ (QUELLE: John Miller Chernoff, Rhythmen der Gemeinschaft, 1994, S. 43). – Vijay Iyer: „Ein Kollege von mir, der in verschiedenen tanzorientierten Salsa-Bands Bass spielt, hat bemerkt, dass er eine neue Dimension des rhythmischen Gefühls gewonnen hat, indem er die Tanzschritte gelernt hat, die zu dieser Musik verwendet werden. Alle Musiker dieser Gruppe vollziehen die grundlegenden Salsa-Tanzschritte, während sie auf der Bühne spielen.“ (QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link)
  8. QUELLE: Jazz und Gesellschaft, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 7, 2002, S. 53
  9. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, „Exposition“ für eine Exposition, in: Klaus Wolbert [Hrsg.], That's Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. XIV
  10. QUELLE: Max Roach, Dokumentarfilm von Gérald Arnaud, Ex Nihilo, Frankreich 1997
  11. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, „Exposition“ für eine Exposition, in: Klaus Wolbert [Hrsg.], That's Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. XIV
  12. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  13. Stefan Zweig beschrieb anschaulich die Welt der bürgerlichen Wertvorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg, zum Beispiel: „Diese Angst vor allem Körperlichen und Natürlichen war tatsächlich von den obersten Ständen bis tief in das ganze Volk mit der Vehemenz einer wirklichen Neurose eingedrungen. Denn kann man es sich heute noch vorstellen, dass um die Jahrhundertwende, als die ersten Frauen sich auf das Fahrrad oder gar beim Reiten in den Herrensitz wagten, die Bauern mit Steinen auf die Verwegenen warfen?“ (QUELLE: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, 2006, S. 95)
  14. Stefan Zweig: „Schon die Männermode der hohen steifen Kragen, der ‚Vatermörder’, die jede lockere Bewegung unmöglich machten, der schwarzen schweifwedelnden Bratenröcke und der an Ofenröhren erinnernden Zylinderhüte fordert zur Heiterkeit heraus, aber wie erst die ‚Dame’ von einst in ihrer mühseligen und gewaltsamen, ihrer in jeder Einzelheit die Natur vergewaltigenden Aufmachung! […] Auf den ersten Blick wird man gewahr, dass eine Frau, einmal in eine solche Toilette verpanzert wie ein Ritter in seine Rüstung, nicht mehr frei, schwungvoll und grazil sich bewegen konnte, dass jede Bewegung, jede Geste und in weiterer Auswirkung ihr ganzes Gehabe in solchem Kostüm künstlich, unnatürlich, widernatürlich werden musste.“ (QUELLE: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, 2006, S. 91)
  15. Stefan Zweig: „Mein Vater, mein Onkel, meine Lehrer, die Verkäufer in den Geschäften, die Philharmoniker an ihren Pulten waren mit vierzig Jahren alle schon beleibte, ‚würdige’ Männer. Sie gingen langsam, sie sprachen gemessen und strichen im Gespräch sich die wohlgepflegten, oft schon angegrauten Bärte. Aber graues Haar war nur ein neues Zeichen für Würde, und ein ‚gesetzter’ Mann vermied bewusst die Gesten und den Übermut der Jugend als etwas Ungehöriges. Selbst in meiner frühesten Kindheit, als mein Vater noch nicht vierzig Jahre alt war, kann ich mich nicht entsinnen, ihn je eine Treppe hastig hinauf- oder hinunterlaufen gesehen zu haben oder überhaupt etwas in sichtbarer Form hastig tun.“ (QUELLE: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, 2006, S. 42)
  16. Die Distanzierung vom Körperlichen, eine gewisse Steifheit und eine Skepsis gegenüber rhythmischer Bewegung findet sich auch in der Spielweise der Musiker der europäischen Konzertmusik. Vijay Iyer: „Durch meine Erfahrung sowohl als Orchestergeiger europäischen Stils als auch als Keyboarder im Jazz- und Hip-Hop/Funk-Kontext habe ich eine starke kulturelle Verschiedenheit in der jeweiligen Rolle des Körpers bei der rhythmischen Aktivität festgestellt. Als Jugendliche im Geigensatz von Schul- und Gemeinde-Orchestern wurden meinen Kollegen und mir oft davon abgeraten, mit dem Fuß zu klopfen oder rhythmisch zu schwingen. Solches Verhalten wurde als linkisch und unpassend angesehen […].“ (QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link) – In einem alten Buch über bürgerliche Anstandsregeln wird Damen untersagt, bei der Begegnung mit einer Marschkappelle auf der Straße im Marsch-Rhythmus zu gehen. Auch hier zeigt sich, dass das Einkuppeln in einen Groove als unschicklich empfunden wurde – wohl wegen der lustvollen Komponente.
  17. Zeitgenössische Aussagen: „Ragtime ist wild gewordene Synkopierung und seine Opfer können meines Erachtens nur erfolgreich behandelt werden wie ein tollwütiger Hund, nämlich durch eine Dosis Blei.“ (aus dem Jahr 1918). – “Warum gibt es Jazz-Musik? Warum gibt es Jazz-Bands? Genauso gut kann man fragen: Wozu gibt es den Groschen-Roman oder die fetttriefenden Donuts? All das sind Anwandlungen niederer Gelüste des Menschen, die die Zivilisation nicht hat übertünchen können. Beim Jazz trifft es New Orleans besonders, denn es wird häufig behauptet, dass dieses musikalische Laster das Licht der Welt in New Orleans erblickt hat. […] Wir beteuern hiermit, dass wir diese Geschmacklosigkeit in der feinen Gesellschaft keinesfalls gutheißen.“ (New Orleans Times vom 20.6.1918) – QUELLE: Beide Aussagen werden zitiert im Film Jazz von Ken Burns, dtsch., Episode 1.
  18. QUELLE: zitiert im Film Jazz von Ken Burns, dtsch., Episode 1. – Charakteristisch für bürgerliche Vorstellungen ist wohl, dass das Gefühl in den Beinen als geradezu gefährlich beschrieben wurde.
  19. QUELLE: Jazz und Gesellschaft, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung , Band 7, 2002, S. 53
  20. So wie Sportler nicht zwangsläufig gute Tänzer sind.
  21. Näheres in: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stellen in eigener Übersetzung: Link, Link
  22. Näheres zum Timing später im Artikel Timing
  23. die Tonhöhen betreffender

 


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